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Frankfurt, Germany, den 24. January 2004, Nr. 20 / Seite 33
Zeitgeschichte Hitlers
Befehl AN der Verantwortung Adolf Hitlers für die Vernichtung der europäischen Juden während des Zweiten Weltkrieges besteht kein Zweifel. Doch rätseln die Historiker schon lange, wann genau der Diktator die Anweisung gab. Im amerikanischen Nationalarchiv in Washington ist nun ein Dokument aufgetaucht, mit dem Hitler persönlich die Deportation von mehreren hunderttausend Juden aus Frankreich befahl.
Das Aktenstück, das sich seit 1945 in amerikanischem Besitz befindet, ist eines der ganz wenigen Dokumente, das Hitler in direktem Zusammenhang mit einer Deportation und Ermordung größeren Umfangs nennt. [SEE PANEL AT RIGHT] Obwohl Hitler in der Öffentlichkeit wiederholt Gewaltmaßnahmen gegen die Juden ankündigt hatte, versuchte er doch, die Spuren seiner Beteiligung am Völkermord zu verwischen. So konnte vor wenigen Jahren der Hamburger Historiker Christian Gerlach nachweisen, daß der Diktator im Dezember 1941 Anweisung gab, deutsche, österreichische und tschechische Juden in den besetzten Ostgebieten zu ermorden. Gerlach konnte diese Tatsache verschlüsselten Hinweisen im Tageskalender von Heinrich Himmler, dem Chef der deutschen Polizei und Führer [sic. Reichsführer] der SS, entnehmen. Im Januar 1942 fand dann die sogenannte "Wannsee-Konferenz" statt, auf der juristische und technische Probleme des Völkermordes geklärt wurden. Bis heute ist aber nicht bekannt, wann die Entscheidung fiel, auch die Juden aus Frankreich nach Osten zu deportieren. Der Historiker Ahlrich Meyer wies jüngst auf diese Lücke in der Forschung hin. Er betonte erneut die Bedeutung der ersten Transporte von französischen Juden in den Osten, die am 27. März 1942 begonnen hatten. Bei diesen ist es aber fraglich, ob es sich um einzelne Maßnahmen oder um den Beginn einer systematischen Vernichtung handelte. In dem neuen Dokument mit Datum vom 10. Dezember 1942 schreibt Heinrich Himmler den Inhalt eines Gesprächs mit dem "Führer" nieder, das er mit Hitler über Sicherheitsprobleme in dem von Deutschland besetzten Frankreich führte. Himmler notiert dabei "Zu Punkt 6)" folgenden Befehl: "Der Führer hat die Anweisung gegeben, daß die Juden und sonstigen Feinde in Frankreich verhaftet und abtransportiert werden. Dies soll jedoch erst erfolgen, wenn er mit Laval darüber gesprochen hat. Es handelt sich um 600 bis 700.000 Juden." Das Dokument mit der Unterschrift Himmlers war als "Geheime Reichssache" deklariert und fügt sich gut in die bisherigen Erkenntnisse über den Verlauf des Holocaust in Frankreich ein: Bereits im April 1942 hatte Hitler zugestimmt, im Zuge von "Sühnemaßnahmen", die Attentate des französischen Widerstandes gegen die deutschen Besatzungstruppen rächen sollten, Juden aus Frankreich zu deportieren. Nun aber, im Dezember 1942, fielen alle Hemmungen: Nachdem die Alliierten einen Monat zuvor in Nordafrika gelandet waren, trat der Vernichtungswille Hitlers deutlich hervor. Am 18. Dezember traf Pierre Laval, der Ministerpräsident der französischen Regierung in Vichy, die mit den deutschen Besatzern kollaborierte, den Diktator in Ostpreußen. Er mußte sich wahrscheinlich Hitlers Forderungen beugen: Im Jahr 1943 erfolgten die großen Deportationswellen, bei denen auch das gesamte Marseiller Hafenviertel abgerissen wurde. Etwas merkwürdig erscheint auf den ersten Blick allerdings die hohe Anzahl von Opfern, die Himmler in seiner Niederschrift erwähnt. Denn 1940 lebten nicht mehr als 330.000 Juden in Frankreich. Doch die überhöhte Zahl war Ausdruck des Vernichtungswillens der deutschen Führung. So forderte Himmler im Februar 1943 bei der Razzia in Marseille kurzerhand die Verhaftung von 100.000 Juden. Tatsächlich wurden damals 1600 Menschen deportiert. Den Vermerk, der erstmals eine persönliche Anweisung Hitlers zum Völkermord in Frankreich belegt, ließ Himmler bei Kriegsende zusammen mit seinem Archiv in ein Salzbergwerk bei Hallein bringen. Hier fiel es dem amerikanischen Geheimdienst OSS in die Hände. Anschließend gelangte es in den Besitz einer amerikanischen Dienststelle, die Beweismaterial gegen deutsche Kriegsverbrecher sammelte. Im Nürnberger Prozeß, in dem sich vom Herbst 1945 an die überlebende Führungsmannschaft des Dritten Reiches verantworten mußte, wurde das Dokument jedoch nicht vorgelegt. Dazu mag Hitlers Verweis auf Laval beigetragen haben. Die Anordnung des Diktators, erst nach Rücksprache mit der französischen Regierung den systematischen Völkermord durchzuführen, hätte den deutschen Angeklagten die Möglichkeit geboten, auf eine alleinige Verantwortung Hitlers und dessen französischer Kollaborateure zu verweisen. So gab es auch vermutlich politische Gründe der amerikanischen Archivverwaltung dafür, den Aktenbestand, zu dem dieses Dokument gehört, erst vor wenigen Jahren freizugeben. Gerade auch durch seinen Bezug auf die französische Regierung in Vichy fügt sich das Dokument in die bisherigen Erkenntnisse der Forschung ein. So hat schon vor einigen Jahren der französische Historiker Serge Klarsfeld die These aufgestellt, daß erst durch die Mithilfe der Kollaborateure von Vichy der Völkermord in Frankreich möglich gewesen sei. Die Diskussion über die eigene französische Beteiligung am und die Verantwortung für den Holocaust wurde in Frankreich durch ein Amnestiegesetz, das der damalige Innenminister François Mitterrand 1953 erwirkte, lange verschleppt. Erst in den neunziger Jahren begann anläßlich von Prozessen gegen hohe ehemalige Beamte der Vichy-Regierung eine umfangreiche Diskussion. Das jetzt aufgefundene Dokument wird in dieser Auseinandersetzung neue Akzente setzen.
Verdammte Fußnoten Von Sven Felix Kellerhoff NICHTS schützt vor vermeintlich sensationellen "Entdeckungen" so zuverlässig wie solides Wissen. In ihrer gestrigen Ausgabe veröffentlicht die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" einen "neuen Fund im amerikanischen Nationalarchiv": Ein Vermerk Heinrich Himmlers vom 10. Dezember 1942, der laut "FAZ" beweise, dass es eine persönliche Anweisung Hitlers gab, die französischen Juden zu ermorden. Nach einem solchen Papier suchen Historiker schon lange. Denn es ist zwar klar, dass der "Führer" den Holocaust wollte und von ihm wusste. Aber es ist kein schriftlicher Befehl überliefert, was sich Auschwitz-Leugner immer wieder zu Nutze machen. Zwar enthält auch das in der "FAZ" faksimilierte Aktenstück mitnichten einen solchen Befehl. Viel ärgerlicher aber ist, dass es keineswegs "neu" ist -- im Gegenteil: Die internationale Holocaustforschung kennt den Vermerk schon seit langem. Und, peinlicher noch: Der wesentliche Teil dieses Aktenvermerks findet sich sogar im 1999 erschienenen Standardwerk über Himmler zitiert, in der sorgfältigen Edition seines "Dienstkalenders 1941/42", herausgegeben von Peter Witte und anderen. Jeder seriöse Historiker, der sich mit dem Holocaust beschäftigt, schlägt zuerst dort nach. Und siehe da, auf Seite 637 ist die Passage abgedruckt, die die "FAZ" nun für "neu" erklärt. Allerdings in der Anmerkung 44. Ach ja, diese verdammten Fußnoten ... Das vermeintlich unbekannte Dokument wird nach Angaben von Witte & Co. übrigens auch in Berlin verwahrt, als Nummer 484 in der so genannten Sammlung Schumacher im Bundesarchiv. Diese Zusammenstellung von Archivalien zum NS-Staat gehört zu den am intensivsten genutzten Quellenbeständen und ist seit 1998 sogar als Mikrofilm zu kaufen. Man muss also wirklich nicht nach Washington D. C. in die National Archives reisen, um diesen Vermerk zu lesen. Die vermeintliche Entdeckung zeigt, wie der in der vergangenen Woche von der "taz" losgetretene Streit um den Großvater von Friedrich Merz und die seit Monaten wabernde Diskussion um Walter Jens, wie beliebig derzeit mit Akten und Papieren aus der NS-Zeit umgegangen wird. Die einfachsten Regeln wissenschaftlicher Seriosität werden geopfert, wenn man einer "Sensation" auf der Spur zu sein glaubt. Früher galten deutsche Historiker als langweilig und fußnotenverliebt. Wenn das nur heute auch noch so wäre ...
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