Frankfurter
Allgemeine
Zeitung,
7. September 1998, Seite 45 Hystorie
Wilkomirskis
Erinnerung ICH
BIN aufgewachsen
und groß geworden in einer Zeit und
in einer Gesellschaft, die nicht
zuhören wollte oder konnte." Der das
schrieb, der Schweizer Musiker Binjamin
Wilkomirski, behauptet aber noch mehr:
seit seiner Schulzeit habe man ihn
zum Schweigen bringen wollen" und
versucht, seine Erinnerungen zu
löschen. 1995 veröffentlichte er
ein Buch, in dem er endlich die Tatsachen,
die ihm seine Adoptiveltern ausreden
wollten -- seine ersten Lebensjahre in der
Hölle des Lagers' Majdanek -- ans
Licht bringen wollte:
Bruchstücke. Aus einer Kindheit
1939--1948". Das
Buch ist ins Gerede gekommen. Der
Schriftsteller Daniel Ganzfried hat
in den letzten Wochen anhand
behördlicher Dokumente den Nachweis
geführt, daß es sich bei
Wilkomirski um Bruno Doesekker
handelt, der am 12. Februar 1941 als
uneheliches Kind in der Schweiz geboren
wurde. Auch Wilkomirski gesteht in seinem
Buch zu, daß die Dokumente in seinem
Fall anders lauten: Aber dieses
Datum stimmt weder mit meiner
Lebensgeschichte noch mit meinen
Erinnerungen überein. Ich habe
rechtliche Schritte gegen diese
verfügte Identität eingeleitet."
Wilkomirskis
Geschichte ist ein Albtraum. Die Menschen
erscheinen in Umrissen oder Fragmenten, da
eine Uniform, dort ein Stiefel, hier ein
Arm. Kaum jemand in diesem Buch hat ein
Gesicht. Berichtet werden Horrorszenen,
die nicht mehr zu steigern sind. Ein Mann
lächelt das Kind an, doch
plötzlich verzerrt sich sein Gesicht,
er wendet sich ab, er hebt seinen Kopf
nach oben, reißt den Mund auf, wie
zu einem gewaltigen Schrei. Von unten,
gegen den hellen Himmel, sehe ich nur noch
die Konturen seines Kiefers und den Hut,
der ihm nach hinten rutscht. Kein Schrei
kommt aus seiner Kehle, aber ein
mächtiger, schwarzer Strahl
schießt aus seinem Hals, als das
Gefährt ihn krachend an der Hauswand
zerquetscht." Solcher
filmgerechten Gräßlichkeit den
Glauben zu versagen, wenn sie mit dem
Anspruch historischer Wahrheit auftritt,
erfordert einen Mut, den 1995, als das
Buch erschien, nur wenige aufbrachten.
Die
Schilderungen exzessiver Grausamkeiten
wirken", so schrieb damals
Eva-Elisabeth Fischer, wie
die auf der Couch eines Psychoanalytikers
rekonstruierten Albträume eines
Traumatisierten." Ihre
Vermutung hat sich inzwischen
bestätigt. Von Wilkomirskis Verleger
war zu erfahren, daß die Fragmente
zum Teil in psychotherapeutischen
Sitzungen zustande kamen, nach der
dubiosen Methode der Wiedergewonnen
Erinnerung", die seit den frühen
neunziger Jahren in England und den
Vereinigten Staaten von Trauma-Lobbyisten
allenthalben praktiziert wurde.
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2.
Dazu
erschienen Anleitungen, sich des sexuellen
Mißbrauchs zu erinnern, den man
angeblich als Kind erlebt und dann
verdrängt hatte, der satanischen
Rituale, denen man dabei ausgesetzt war
oder gar der Entführung durch Ufos.
Die
Literaturwissenschaftlerin Elaine
Showalter hat sie jüngst als Wellen
von ,,Hystorien" gesammelt und
beschrieben. Die Betroffenen berichten
übereinstimmend, Opfer furchtbarster
Traumatisierungen zu sein, diese aber
später durch Gehirnwäsche
vergessen zu haben, bis sie sie
schließlich mit Hilfe einer
psychotherapeutisch gestützten
Technik der Tiefenerinnerung
wiedergewinnen konnten. Gleich
mehrfach findet sich in
Bruchstücke" beschrieben, wie
der Autor seiner eigenen Stimme
zuhört, als sie das Gegenteil von dem
sagt, was er ausdrücken wollte:
Ich hörte mich reden, als ob
jemand anderer in mir redete." Diese
fremde Stimme!", so fällt er sich
einmal ins Wort, Oder war das doch
meine Stimme?" Irgendwann, so scheint es,
haben die Stimmen in Bruno Doesseker sich
zu einem Kurzschluß-Pakt
entschlossen. Es war die Geburtsstunde von
Binjamin Wilkomirski. Es
kommt aber etwas hinzu, was das Urteil
erschwert: tatsächlich gibt es unter
den Überlebenden der Lager Kinder
ohne Identität. Bisher hat ihre
Organisation Wilkomirski als den Sprecher
ihrer Anliegen betrachtet; inzwischen
neigt man in der ,Kontaktstelle
für Kinder Überlebender der
Judenverfolgung des Naziregimes, Schweiz"
zu einer vermittelnden Position. Danach
soll es sich um eine Mischung von Wahrheit
und Fiktion handeln, bei der in die
Bruchstellen der Erinnerung Bilder
reingerutscht" seien, die nicht dem
wirklich Erlebten entstammen. Mit dieser
Erklärung wird man sich nicht
begnügen können.
Verantwortungslos handelt, wer
postmodernen Fünftelwahrheiten den
gleichen Rang einräumt wie den
authentischen Zeugnissen von Primo Levi
oder Ruth
Klüger. Ich
konnte", so Wilkomirski an einer Stelle
seines Buches über sein Leben in der
Schweiz der Nachkriegszeit, der
unerträglichen, fremden Gegenwart nur
entfliehen, indem ich in die Welt und zu
den Bildern meiner Vergangenheit
zurückkehrte". Vielleicht ist damit
schon alles gesagt. Dann stand am Anfang
seiner Geschichte der Ekel vor dem
gesicherten Leben, der begründet sein
wollte: Dann mußte die Lehrerin an
eine KZ-Aufseherin erinnern, der Skilehrer
an den Henker, die Schießbuden auf
dem Rummelplatz an Auschwitz und Wilhelm
Tell an die SS. Und noch einmal die
grauenvolle Steigerung: die Geburt des
eigenen Sohnes wird mit dem Bild einer
Ratte im Leichenberg kon-frontiert, Hier
wird das Buch zum bösen, infamen
Kitsch. Kein Vater, was immer er erlebt
hat, darf seinem Sohn diese Asso-ziation
aufbürden. Die
Erwachsenen -- sie alle haben mich
angelogen. Am besten ist, ihnen nicht mehr
zuzuhören", heißt es einmal.
,,Ich verstand nicht, was sie sagten --
ich wollte nicht verstehen." Vielleicht
sind dies die Stellen, an denen Binjamin
Wilkomirksi der Wahrheit am nächsten
kommt.
LORENZ
JÄGER |