No. 25, Hamburg, June 19, 2000 http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,81400,00.html
Debatten Verwilderung der
Sitten Droht
eine Neuauflage des Historikerstreits? Kritiker
fordern den Direktor des Münchner Instituts
für Zeitgeschichte zum Rücktritt auf,
weil der eine Laudatio auf Ernst Nolte
hielt. Auf
dem Weg zu seinem Arbeitszimmer muss Horst
Möller seit kurzem ein grellgelbes Plakat
passieren: "Null Nolte!" ruft es dem Direktor des
Münchner "Instituts für Zeitgeschichte"
(IfZ) entgegen. Seit Möller, 57, am 4. Juni
die Laudatio auf Ernst Nolte, 77, den
notorisch umstrittenen Historiker und
diesjährigen Träger des
"Konrad-Adenauer-Preises" der nationalkonservativen
"Deutschland-Stiftung" gehalten hat, herrscht
Unruhe unter den wissenschaftlichen Mitarbeitern
der renommierten Forschungseinrichtung. Der Streit wird längst lautstark über
die Medien ausgetragen. Die schärfste Kritik
übte der Berliner Historiker Heinrich
August Winkler, 61, Mitglied im Beirat des IfZ.
In der "Zeit" fordert er den Rücktritt
Möllers vom Direktorenposten, weil die
öffentliche Ehrung Noltes "beiden Ämtern
Schaden zugefügt" habe -- Möller ist
zugleich Co-Vorsitzender der Gemeinsamen Kommission
zur Erforschung der jüngeren Geschichte der
deutsch-russischen Beziehungen, die, pikanter
Zufall, ausgerechnet in dieser Woche tagt. Zuvor hatte Winkler
vergebens versucht, Möller von der Laudatio
auf Ernst Nolte abzuhalten, dessen These von der
nationalsozialistischen Judenvernichtung als
"Reaktion" auf die stalinistischen Massenmorde
den "Historikerstreit" über die
Singularität von Auschwitz ausgelöst
hatte. O-Ton Nolte vom 6. Juni 1986: "War nicht
der Archipel Gulag ursprünglicher als
Auschwitz?
War nicht der ,Klassenmord' der Bolschewiki das
logische und faktische Prius des ,Rassenmords'
der Nationalsozialisten?" Rhetorische Fragen, die in die Behauptung
mündeten, Hitler habe
"das Judentum" mit einer gewissen Berechtigung als
Kriegsgegner behandeln können. Es ist
diese radikale, einseitige, oft unerträgliche
und von den Opfern absehende Verstiegenheit des
Verstehenwollens, die Nolte immer wieder in den
Verdacht bringt, er wolle die maßlosen
Verbrechen Hitlers relativieren, gar durch
objektive Umstände des "Weltbürgerkriegs"
entschuldigen. Noltes Niederlage im Streit mit
Jürgen Habermas, Hans-Ulrich Wehler und
vielen anderen ist aktenkundig -- und inzwischen
selbst Historie. Möller, gewiss kein Nolte-Fan, wehrt sich
nun in einer Erklärung gegen ein
"Klima der öffentlichen
Einschüchterung", eine
"Rufmordkampagne", die "ganz offensichtlich darauf
abzielt, jemanden mundtot zu machen, der ...
unbequeme Ansichten
vertreten" habe. Tatsächlich hat Möller ein Buch mit
dem Titel "Der rote Holocaust" herausgegeben und
mehrfach harte Kritik an der Hamburger Ausstellung
über die Verbrechen der Wehrmacht geübt
-- Kritik, die auch Winkler großenteils
berechtigt findet. Winkler zum
SPIEGEL: "Bis vor wenigen
Monaten hatte ich ein entspanntes, gutes
Verhältnis zu Herrn Möller." Worum also geht es? Ist
ein neuer Historikerstreit im Anzug? Oder nur
ein akademischer Sturm im Wasserglas, bei dem
alte Schlachten noch einmal geschlagen werden?
Oder erhebt, wie der Heidelberger
Kirchenhistoriker Gerhard Besier, seit
kurzem im Beirat des IfZ, in der "Welt" schrieb,
der Geist von "Gleichschaltung" und
"political
correctness" sein
hässliches Haupt -- soll an Möller gar
ein "volkspädagogisches Exempel statuiert"
werden? Bemerkenswert ist, dass Ernst Nolte, längst
emeritierter Geschichtsprofessor und seit Jahren
aus der öffentlichen Debatte verschwunden,
immer noch politische Reflexe auslöst, als
ginge es ums Ganze. Fällt sein Name, stehen
die alten Lager wie einst zum Kampf bereit:
"Zügelloses Reden", "Verbalradikalismus",
"Krawall an der moralischen Tabufront",
"Verwilderung der Sitten" -- so attackiert
Gustav Seibt, einer der klügsten
Nolte-Kritiker, den frisch gebackenen
Preisträger, der in seiner Dankesrede sogleich
die Gelegenheit ergriff, seinen Ruf als Provokateur
des Zeitgeists auf die alten Tage noch einmal zu
festigen. Zunächst griff er Marcel
Reich-Ranicki an, der Nolte in seiner
Autobiografie "Mein Leben" eine "trübe Figur"
genannt hatte, und diagnostizierte --
selbstverständlich als böses Erbe von
1968 -- ein "negativ-germanozentrisches Paradigma",
das sich auch in einer "schuldlos-schuldbekennenden
Generation" äußere, die den
"kollektivistischen Schuldzuschreibungen gegen
Deutschland" Folge leiste. Auch die preisverleihende Deutschland-Stiftung,
ein 1966 gegründeter rechtsnationaler
Kampfverband gegen die geistige Auflösung des
Abendlandes, passt in das Retro-Schema dieses
merkwürdig rückwärts gewandten
Streitfalls. Ihr Generalsekretär Kurt
Ziesel, Jahrgang 1911, verbrachte seine
Lehrjahre beim Nazi-Hetzblatt "Völkischer
Beobachter" und in einer
Kriegsberichterstatter-Einheit. Gleichwohl durfte
er später Helmut Kohl zu seinen
Freunden zählen. Ein weiteres, biografisches Indiz für die
antiquiert und leicht verquer anmutende
ideologische Schlachtordnung: Nolte, Möller
und Winkler waren in den frühen siebziger
Jahren Zielscheibe teils gewalttätiger
linksradikaler Aktionen, gegen die sie damals die
"Freiheit der Wissenschaft" verteidigten: "Nolte
wird entführt, Möller wird liquidiert",
skandierten damals militante Studenten in
Berlin. Dem 1949 gegründeten Institut für
Zeitgeschichte jedenfalls kommt die aktuelle
Debatte höchst ungelegen. Jahrzehntelang war
es Instanz und Seismograf für den Umgang der
Deutschen mit der Nazi-Vergangenheit.
Unzählige Publikationen, darunter die
Goebbels-Tagebücher, Studien über das
System der Konzentrationslager und die besonders
bekannte "Anatomie des SS-Staates" beeinflussten
das zeithistorische Bewusstsein. Doch die frühere Quasi-Monopolstellung des
IfZ ist dahin. Viele Bundesländer haben eigene
Forschungseinrichtungen gegründet, und
Direktor Möller hat den privilegierten Zugang
zum Kanzleramt verloren, seit sein Protektor Kohl
abgewählt wurde. Jetzt fürchtet man einen
Image-Schaden -- massiver Nachteil im Kampf um
nötige Drittmittel. Die Unterstellung aber, das Institut habe unter
Möllers Leitung einen "national-konservativen
Salto" ("Süddeutsche Zeitung") vollzogen,
hält etwa der langjährige
wissenschaftliche Mitarbeiter Hermann Graml
für "grundfalsch". Zugleich heißt es in
einem Brief von 29 Mitarbeitern des Instituts an
die "SZ" sibyllinisch, die Laudatio Horst
Möllers auf Ernst Nolte sei intern "kontrovers
diskutiert" worden. Studentenvertreter Philip
Bauer interpretiert dies als "Versuch der
Schadensbegrenzung". Könnte es sein, dass die schrillen
Töne im allerneuesten Kulturkampf ein
später Reflex auf alte Erfahrungen und
Verletzungen sind? Glaubt Möller, er
müsse dem vermeintlich linken Zeitgeist unter
Rot-Grün Paroli bieten und einen Mann wie
Nolte verteidigen, der sich doch nachhaltig selbst
isoliert hat? Und Winkler? Er gilt vielen eher als "rechter"
Sozialdemokrat, der öffentlich den Abschied
von linken Flausen fordert -- in den siebziger
Jahren verhinderten Kader des "Kommunistischen
Bunds Westdeutschland" semesterlang seine
Vorlesungen an der Freiburger Universität.
"Ich bin ein Zwei-Fronten-Mann", sagt Winkler. Vielleicht ist die Antwort -- jenseits
üblicher Machtkämpfe um Amt und
Würden, Diskurshoheit und Drittmittel -- ganz
einfach: Ob Walser/Bubis-Debatte,
Holocaust-Mahnmal oder
Klemperer-Tagebücher: Wenn es um diese
Epoche der Zeitgeschichte geht, gibt es keine
deutsche Normalität. Nicht einmal in den
heiligen Hallen der Wissenschaft. REINHARD MOHR. Related files: -
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Räuber
Hotzenplotz und Petrosilius Zwackelmann
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