Frankfurt, 14. Juni 2000
Niemand
bleibt eine Insel Hinter imperialer
Fassade - das neue Holocaust-Museum in
London Von Peter Nonnenmacher Kaum sind die Akten im
David-Irving-Prozess
geschlossen,
kaum sind die Schlagzeilen über den
"Holocaust-Leugner" verhallt, da
öffnet in London eine Ausstellung
ihre Tore, die sich wie eine bebilderte
Antwort auf Irving, wie eine
vielstimmige Reaktion auf seine Tiraden
ausnimmt. Das neue Holocaust-Museum in London,
als permanente Ausstellung im Imperial War
Museum, ist der materialisierte
Kontrapunkt zum Chor der
Geschichts-Verdreher, ein Ort
intelligenter Betrachtung ebenso wie
intensiver Besinnung. Mit diesem Museum
schließt sich London dem Reigen der
Weltstädte an, die in jüngster
Zeit die Massenvernichtung der Juden durch
den National--sozialismus aufzuarbeiten
versucht haben. Auch an der Themse, etwas
abgerückt von den Geschehnissen der
Nazi-Ära, lässt sich nun
studieren, was es mit dem Holocaust auf
sich hatte und wie es zu ihm kam. Natürlich
hat das Fragen aufgeworfen, die den
Zeitpunkt eines solchen Projekts
betreffen. Folgte London, als man
dieses Museum in den 90-er Jahren in
den Blick fasste, nur einem modischen
politischen und kulturellen Trend?
Warum brauchte Britannien
plötzlich ein solches Museum,
nachdem es ein halbes Jahrhundert lang
ohne eins ausgekommen war? "Müssen
wir denn immer zurückschauen,
statt in die Zukunft zu blicken?"
provozierte der liberale Londoner
Independent seine Leser. Und was war
mit anderen Völkermorden, mit
Genoziden in anderen Erdteilen, deren
Aufarbeitung keine Museen gewidmet
waren? Auf letztere Frage wartet das Imperial
War Museum mit einer prompten Antwort auf:
Mit den Völkermorden anderswo
beschäftigt sich eine weitere
Ausstellung, die im kommenden Jahr
eröffnet werden soll. Was aber den
Holocaust angeht, so räumen die
Experten gern ein, dass das
öffentliche Bewusstsein in
Großbritannien erst in jüngster
Zeit zu einer Bereitschaft umfassender
Wahrnehmung gereift sei. Mit dem Ende des
Kommunismus, mit einem schärferen
Blick auf die eigene Vergangenheit, mit
Shoah und Schindlers Liste und dem
Aufspüren der letzten
NS-Kriegsverbrecher auf der Insel, mit
Schweizer
Bankkonten und Londoner
Gold-Konferenzen und dem Streit um
gestohlene Kunstwerke aus jüdischem
Besitz wuchs auch im Vereinigten
Königreich (wo immerhin einmal 50 000
jüdische Flüchtlinge Aufnahme
fanden) der Ruf nach der Erledigung
"unerledigter Geschäfte". Dieses "Geschäfts" hat sich nun
das Holocaust-Museum angenommen, das
hinter der imperialen Fassade des alten
Londoner Kriegs-Museums auf zwei
Stockwerken zu einem Gang durch die
Geschichte einlädt, von den
vergleichsweise sorglosen Tagen
deutsch-jüdischer Familien in den
20-er Jahren bis zur systematischen
Ermordung von Millionen Juden in den 40-er
Jahren. Mit architektonischer Finesse,
klug konzipiertem Medien-Einsatz und einer
geschickten Balance zwischen Schock und
nüchterner Analyse vermittelt dieser
Gang die historische Entwicklung, die zum
Holocaust führte, die Gestalt, die
die Massenvernichtung annahm, und die
Organisation, mit der der Nazi-Wahn in
Wirklichkeit umgesetzt wurde. Keine emotionalen Tricks sind dabei im
Spiel. Ruhig, geradezu freundlich beginnt
der Rundgang in einem ovalen, mit hellem
Holz getäfelten Raum, der den
Reichtum jüdischen Lebens vor der
NS-Zeit feiert, in Fotos, Liedern,
Videostücken. Von hier führt der
Weg in die 30-er Jahre, zur
europäischen Situation nach dem
Ersten Weltkrieg, zum Aufstieg
Hitlers, zum religiösen Erbe
der Juden, zum Rassenwahn der Nazis, der
ausführlich dokumentiert ist. Am
Rande erwähnt finden sich Sinti und
Roma, Homosexuelle und politische Gegner
der Nazis, die ebenfalls in den Lagern
ermordet wurden. Aber das Hauptgewicht der
Ausstellung liegt auf dem Schicksal der
europäischen Juden. Mit übersichtlichen Schautafeln,
in die Bildschirme eingelassen sind, mit
einer Mischung aus Informationen,
Augenzeugenberichten, Ausschnitten von
Dokumentarfilmen, mit Zitaten und Postern
zerlegt die Ausstellung die Ereignisse in
begreifliche Kapitel -- hier der
Rassenhass, dort die Ausgestoßenen,
da die Berliner Olympiade von 1936,
daneben das Wachstum des Hitler-Reiches,
der Strom der Flüchtlinge, die
Pogromnacht. Goebbels Organ schallt
durch die Korridore, in seinem
rhythmischen Bestehen auf dem Vorrang
deutscher Kultur, während in den
Nischen des Museumgangs in Video-Aufnahmen
Überlebende der Nazi-Ära mit
gedämpfter Stimme Auskunft über
die Realitäten der Zeit geben. Diskret, aber klug durchdacht
lässt der Gang den Besucher die
Atmosphäre der Zeit erfahrbar werden.
In irregulären Windungen zwischen
braunen Terracotta-Platten, mit kleinen
Erkern durchsetzt, bahnt man sich einen
Weg durch die 30-er Jahre, bis man am
Kriegsbeginn 1939 angelangt ist. Treppe in die
TiefeVon hier führt eine Treppe in die
Tiefe. Das untere Stockwerk,
überwiegend schwarz gehalten und
dennoch weiträumig und wenig
klaustrophobisch, ist simpler ausgelegt,
folgt der bitteren Logik des Weges in die
Konzentrationslager. Hier sind die
Nazi-Eroberungen verzeichnet, die Ghettos,
die Mordkommandos, der Transport in die
Lager, die Todesrate, das Dilemma der
jüdischen Organisationen, der Beginn
massenhafter Liquidation. Vier
Info-Kästen dokumentieren, an
verschiedenen Stationen, präzis den
Wissensstand des Vereinigten
Königreichs: "News reaches Britain",
die Nachrichten vom europäischen
Kontinent erreichen die Insel - diese war
recht gut und früh über die
Vorgänge jenseits des
Ärmelkanals informiert. Zwei
Räume auf diesem Stockwerk
prägen sich besonders ein. Der eine
ist ein dunkler, quadratischer
Spiegelraum, auf dessen Wände die
Hierarchie der "Endlösung", die
Bürokratie des Mordens, in Form eines
gigantischen Organisationsplanes
verzeichnet ist. Der andere ist ein lang gestreckter
Raum, in dem ein grell von oben
beleuchtetes Auschwitz-Modell,
ganz in gespenstisches Weiß
getaucht, die Ankunft eines Transports,
den Aufmarsch Tausender von Opfern
wiedergibt. 800 Schuhe, auf zehn Jahre
ausgeliehen aus den riesigen
Beständen des
Majdanek-Staats-Museums, bilden den
Hintergrund zu dieser Szene. Nicht weit
entfernt sind eine Büchse mit
Zyklon-B-Gas-Kügelchen ausgestellt
und eine
Knochen-Zerkleinerungs-Maschine
zur Gewinnung von Dünger aus
KZ-Knochen-Material. Rund um die
Ausstellungsstücke bleibt Raum zum
Fragen. Wer waren die Täter?
Scheinwerferlicht auf viele leere
Plätze. Wer waren die Retter? Schindler,
gewiss, aber unter vielen anderen. Was
wurde aus den Opfern? Im letzten Raum,
wieder ein holzwarmes, lichtes Oval, die
Urteile der Augenzeugen auf Monitoren,
persönliche Bekenntnisse, durchaus
auch widersprüchliche
Schlussfolgerungen. Man kann sich setzen,
atmen, das Gesehene überdenken.
Edmund Burkes Diktum, zum Triumph
des Bösen brauche es nur "gute Leute,
die die Hände in den Schoß
legen". Vielleicht, meint die in London lebende
jüdische Schriftstellerin Lisa
Appignanesi, sei es ja an der Zeit,
dass Erinnerung an den Holocaust durch
"Lernen vom Holocaust" ersetzt werde: Das
David-Irving-Spektakel
vom Frühjahr hat dem Londoner
Holocaust-Museum zusätzliche
Legitimation verschafft. Immerhin, meint
die Autorin, signalisiere die Ausstellung
im Imperial War Museum auch neues
britisches Interesse an Europa: "Einer der
Gründe, warum Britannien gerade jetzt
des Holocausts gedenkt, ist doch der, dass
es sich endlich bereit findet, ein
bisschen von seinem Insel-Status
aufzugeben und seine Geschichte mit der
Geschichte Europas zu verbinden." Auch in
diesem Sinne sei die Museumseröffnung
jedenfalls "ein gutes
Zeichen". Copyright ©
Frankfurter Rundschau 2000 |