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Im Zuge dessen entlarvte man Auschwitz-Leugner wie Irving in umfassender Beweisführung als Lügner.

Frankfurter Rundschau

Frankfurt, September 16, 2000 - Feuilleton - Seite 49


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Blitzkrieg und Hakenkreuz Vom Irving-Prozess zur Holocaust-Ausstellung: Der Nationalsozialismus in britischer Perspektive

SEIT Anfang des Jahres 2000 ist der Holocaust mehr als je zuvor in den britischen Schlagzeilen präsent. Den Anfang machte die Verleumdungsklage David Irving gegen Deborah Lipstadt. Drei Monate lang, vom 11. Januar bis zum 11. April, stand der Holocaust im Zentrum eines unter großem öffentlichen Aufsehen durchgeführten Prozesses am High Court in London. Tag für Tag debattierten Historiker und Rechtsanwälte über die Ansichten des rechten Geschichtspublizisten David Irving: Hitler habe von der Judenvernichtung nichts gewusst; in Auschwitz habe es keine Gaskammern gegeben; die relativ wenigen Juden, deren Ermordung durch die Nationalsozialisten Irving zugibt, seien isolierten SS-Einheiten zum Opfer gefallen, die auf eigene Faust gehandelt hätten.

Im Zentrum des Prozesses stand Irvings Meinung, dass alle diejenigen als Lügner anzusehen seien, die - wie Lipstadt - den Standpunkt vertreten, die vom ihm angeführten Punkte gründen auf der mutwilligen Fälschung der historischen Tatsachen. Wer dies tue müsse durch gerichtliche Verfügung gezwungen werden, die Anschuldigungen zurückzunehmen und Schadensersatz in nicht unbeträchtlicher Höhe zu leisten. Im Gerichtssaal war man sich darüber einig, dass es in erster Linie um Irvings Umgang mit Tatsachen und historischen Dokumenten ging, nicht eigentlich um den Holocaust. Aufgabe des Richters war nicht, darüber zu befinden, was 1942-44 geschah, sondern lediglich darüber, was in Irvings Studierzimmer vor sich ging.

Doch diese Grenzlinie war dann doch nicht so einfach zu ziehen. Der Prozess - und mehr noch der klare Urteilsspruch, der Irvings Rassismus, Antisemitismus und seine Verfälschung historischer Tatsachen als erwiesen erkannte - brachte die Details des Holocaust ständig ins öffentliche Bewusstsein. Eine immense Zahl von Belegen wurde präsentiert, die die Funktionsweise der Gaskammern ebenso dokumentierten wie die zugrunde liegenden Entscheidungsprozesse. Wohl zum ersten Mal beschäftigte sich die britische Presse ausgiebig mit den den Details des Vernichtungsprogramms der Nazis und den Ergebnissen der einschlägigen Forschung.

Im Zuge dessen entlarvte man Auschwitz-Leugner wie Irving in umfassender Beweisführung als Lügner. Den Urteilsspruch selbst gaben alle wichtigen Zeitungen ausführlich wieder. Zur besten Sendezeit, am Samstagabend, wurde ein zweistündiger Fernsehfilm über den Prozess gebracht, mit nachgestellten Ausschnitten aus dem Prozess, mit Hintergrundberichten über die historischen Ereignisse und mit Interviews führender Historiker.

Anfang Juni dann, kurz nach Ende des Prozesses, wurde die neue ständige Holocaust-Ausstellung im Imperial War Museum offiziell eröffnet. Der dafür eigens errichtete neue Flügel des Museums hat 17,5 Millionen Pfund gekostet und wurde von niemand geringerem als der britischen Königin eröffnet, was dem Ereignis die größtmögliche offizieller Weihe verlieh.

Bisher hatte das Imperial War Museum hauptsächlich den Zweck, britische Kriegserfolge und die Tapferkeit der daran beteiligten Soldaten, Matrosen und Flieger zu feiern; ein Ausdruck jener unkomplizierte Einstellung der britischen Öffentlichkeit gegenüber den den Kriegen ihrer Nationalgeschichte, die ausländische Besucher manchmal irritiert. Die Eröffnung der Holocaust-Ausstellung signalisiert eine wichtige Akzentverlagerung des Museums, indem zum ersten Mal neben den kriegerischen Helden nun auch auch Opfer der Kriegszeiten gleichrangig repräsentiert sind.

 

DIE Ausstellung trägt typisch britische Züge, wirkt sehr anders als ihr Gegenstück in den Vereinigten Staaten. Das Washingtoner Holocaust Memorial Museum ist angefüllt mit Dramatik und packender Präsentation, von den Fotowänden, die das jüdische Leben in Osteuropa vor dem Krieg dokumentieren, bis hin zum Baustil des Gebäudes selbst. Die britische Ausstellung hingegen geht wesentlich nüchterner und zurückhaltender vor. Und während die amerikanische Ausstellung alles personalisiert, jedem Besucher eine Gefangenennummer zuweist, ihn einlädt, einen Viehwagen zu besteigen und sich emotional mit den Opfern zu identifizieren, vermeidet die britische Ausstellung jeden Hang zur Personalisierung und behandelt ihren Gegenstand in einer emotionslosen, fast akademischen Weise.

Dennoch hinterläßt die Ausstellung einen starken Eindruck. Sie behandelt ausführlich den Aufstieg des Nationalsozialismus und die Geschichte des Antisemitismus, wodurch sie die Vernichtungspolitik in einen breiteren historischen Kontext stellt als das Washingtoner Museum. Sodann werden visuelle Ausstellungsstücke präsentiert - Erinnerungen Überlebender auf Video, Modelle, Plakate, Filme, Tonaufnahmen und weitere Objekte (am anrührendsten ein Schuhhaufen aus Auschwitz, von Opfern stammend, die sich für die Gaskammer auszogen) -, die sich zu einer anschaulichen und detaillierten Erzählung der nationalsozialistischen Judenvernichtung verbinden. Immer wieder wird das Schicksal einzelner, namentlich identifizierter Männer, Frauen und Kinder nachgezeichnet, die dem perversen Traum von einem rassischen Utopia zu Opfer fielen.

Der Besuch des Museums wäre David Irving zu empfehlen - auch wenn man bezweifeln muss, dass er gerne hingehen würde: er könnte es allzu schwierig finden, sich die Exponate einfach wegzuwünschen, wie er sich so viele der vor Gericht präsentierten Dokumente wegwünschte.

Durch die Anwesenheit der Queen bei der Eröffnung erfuhr die Ausstellung sogleich größtmögliche Publizität, seither reißt der Besucherstrom nicht ab. Nach ihrem Rundgang sprach die Queen mit KZ-Überlebenden und war von diesen Gesprächen sichtlich bewegt. Abgesehen von einem kleinen, wenig beachteten Privatmuseum in Nottinghamshire ist dies die erste dauerhafte Holocaust-Ausstellung in Großbritannien. Dass sie in einem der wichtigsten Museen des Landes untergebracht ist, im Herzen der Hauptstadt, errichtet und betrieben auf Staatskosten, unterstreicht das Gewicht, das dem Thema dieser Ausstellung nun offiziell beigemessen wird.

Kurz nach der Ausstellungseröffnung fand eine große internationale Konferenz- und Filmwoche über den Holocaust in Oxford und London statt. Dutzende von Dokumentar- und Spielfilmen aus sechs Jahrzehnten und vielen Ländern über die einzelnen Aspekte des Holocaust wurden vorgeführt. Alle drei Ereignisse, der Prozess, die Ausstellungseröffnung soweit die Konferenz- und Filmwoche haben die öffentliche Aufmerksamkeit und die Diskussion über den Holocaust in Großbritannien auf ein neues Niveau gehoben. Inzwischen scheint fast keine Woche zu vergehen, in der nicht irgendeine neue Story in der britischen Presse auftaucht.

So hat im Juni die Herausgabe bisher unter Verschluß gehaltener US-Dokumente mit geheimen britischen Kriegsentschlüsselungen deutscher Militärfunksprüche die alte Debatte neu entfacht, ob die britische Regierung den Mord an den europäischen Juden irgendwie hätten aufhalten können. Jetzt sieht es so aus, dass die Briten schon im Vorfeld von dem Plan der SS 1943 gewußt hatten, alle Juden aus Rom zu verschleppen und in Auschwitz umzubringen, aber nichts dafür taten, dieses Verbrechen zu verhindern. Das neuerwachte Interesse besitzt auch politische Implikationen. Bereits vor einigen Monaten hat die Regierung von Tony Blair den Jahrestag der Befreiung von Auschwitz zum alljährlichen offiziellen Holocaust Remembrance Day erklärt. Allerdings war manch einer enttäuscht, dass die Regierung gleichzeitig bekanntgab, sie habe ihre vorherige Absicht, das Leugnen des Holocaust unter Strafe zu stellen, fallengelassen, da ein solches Gesetz die Redefreiheit bedrohen könnte.

Außerdem hat die Regierung ein offizielles Beratergremium in Sachen Kunstraub geschaffen, das sich mit Rückgabeforderungen ursprünglicher Eigentümer befaßt, deren Kunstwerke während des ,Dritten Reichs' von den Nazis enteignet oder erpreßt wurden und sich jetzt in staatlichen britischen Museen oder Galerien befinden. Dieses Gremium verfügt nicht über rechtsverbindliche Befugnisse, soll aber beratend eingreifen und zum Interessensausgleich zwischen Museen und Klägern beitragen. Es agiert deshalb weitgehend im Hintergrund. Dennoch ist auch diesem Gremium beträchtliche öffentliche Aufmerksamkeit zuteil geworden, was auch nötig ist, da ja Alteigentümer veranlasst werden sollen, sich zu melden.

Bislang wird erst ein einziger Fall verhandelt. Es geht um ein holländisches Gemälde des 18. Jahrhunderts in der Tate Gallery: Blick auf Hampton Court Palace von Jan Griffier dem Älteren. Der Kläger, eine deutsch-jüdische Familie, die inzwischen in England wohnt, macht geltend, sie sei während der deutschen Besetzung Belgiens in den früher vierziger Jahren gezwungen worden, das Bild weit unter Marktwert zu verkaufen. Die Tate Gallery erwarb das Gemälde 1960 im guten Glauben. Ganz gleich, wie das Gremium entscheiden wird - das Ergebnis wird zweifellos in den britischen Medien ausgiebig kommentiert werden.

Wie läßt sich dieses plötzlich aufflackernde Interesse am Holocaust erklären? Und markiert es einen grundlegenden Wandel der Haltung der britischen Medien und der britischen Kultur? Eine Erklärung dafür ist nicht einfach. Gewiß spielt auch der Zufall eine Rolle. Niemand hätte den Verleumdungsprozeß Irving gegen Lipstadt oder dessen zeitliche Nähe zu anderen Entwicklungen voraussehen können (immerhin reichte Irving seine Anklageschrift gegen Lipstadt bereits im September 1996 ein). Und auch das Kunstraub-Beratergremium hätte es vielleicht gar nicht gegeben, hätte die Tate Gallery 1999 nicht jene Forderung wegen des Hampton-Court-Gemäldes erhalten, wodurch die Regierung gezwungen wurde, zu handeln.

Dennoch ist dieses öffentliche Interesse mehr als ein reiner Zufall. In breiterem Kontext betrachtet, ist es Teil einer umfassenden Entwicklung, mit deutlichen Parallelen in anderen Ländern. In vielen hochentwickelten Industriegesellschaften hat es genau in jenem Augenblick, in dem die persönlichen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg zu versiegen drohten, einen neuen Schub der öffentlichen Erinnerung gegeben. Von denen, die die Kriegszeit noch selbst erlebt haben, leben nicht mehr allzu viele. Das Gedenken an diese Zeit geht von der individuellen auf die kulturelle Sphäre über.

In gewisser Weise fungierte der Irving-Prozeß als dramatisches Symbol für diesen Augenblick des Übergangs. Kein einziger KZ-Überlebender wurde von der Verteidigung aufgerufen; ihre Strategie beruhte vielmehr allein auf der Präsentation dessen, was Historiker über das Vernichtungsprogramm wissen. Worum es ging, waren die überlieferten Belege - und Irvings Verfälschung dieses Materials. Der Prozess stellte - über jeden vernünftigen Zweifel erhaben - fest, was Historiker über den Holocaust in Erfahrung bringen können, und zwar in einer Situation, in der kein Augenzeuge zur Verfügung steht. Die Befürchtungen derer, die, wie die Beklagte Deborah Lipstadt, glauben, das Leugnen des Holocaust werde einfacher, sobald es keine Augenzeugen mehr gebe, haben sich damit als grundlos erwiesen. In den Vereinigten Staaten hat, wie der Historiker Peter Novick jüngst in einem kontrovers diskutierten Buch darlegte, die Verankerung des Holocaust im Zentrum des öffentlichen Gedächtnisses kontinuierlich stattgefunden, mit der Einrichtung einer wachsenden Zahl von Gedenkmuseen, Gedenkfeiern und Bildungsprogrammen in vielen Städten und Staaten. Dieser Prozess begann Novick zufolge in den sechziger Jahren, kam allerdings erst gegen Ende der Achtziger zur vollen Entfaltung und erreichte seinen Höhepunkt wohl 1993 mit Steven Spielbergs Film Schindlers Liste.

Die Judenvernichtung der Nationalsozialisten ist in der amerikanischen Öffentlichkeit in hohem Maße präsent, große Summen öffentlicher Gelder fließen ins öffentliche Gedenken und in einschlägige Bildungsprogramme. Analysen amerikanischer Zeitungen haben gezeigt, dass zwar der Anteil deutscher Themen an der allgemeinen Berichterstattung abnimmt, dass aber zugleich der Anteil von mit dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg zusammenhängenden Themen stetig ansteigt. Der Holocaust ist in der amerikanischen Kultur zu jenem historischen Gegenstand geworden, der die Moral definiert, wie kein anderes Thema fungiert er als Prüfstein für Gut und Böse. Auch in Deutschland hat es bis zu den neunziger Jahren gedauert, bevor ernsthafte Versuche unternommen wurden, den Schadensersatzforderungen zuvor vergessener Nazi-Opfer, wie der Zwangsarbeiter, nachzukommen. In den Neunzigern hat es in einer Reihe von Ländern wie Frankreich und Großbritannien, wo in den vorangehenden Jahrzehnten praktisch nichts unternommen wurde, endlich Versuche gegeben, SS-Massenmörder vor Gericht zu bringen, auch wenn es nur selten bis zur Anklage kam. Diese weitverbreitete Wiederentdeckung der Erinnerung ist nicht zuletzt eine Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Auf der praktischen Ebene führte der Kollaps des Sowjetreiches zur Öffnung von Archiven in Osteuropa (einschließlich der DDR) und erleichterte den Zugang zu überlebenden Augenzeugen der Nazi-Greuel in Lettland, Litauen und anderen osteuropäischen Staaten. In einem allgemeineren Sinn bildete der Kommunismus ein negatives Stereotyp, das die herrschenden öffentlichen Ideologien während des Kalten Krieges in den westlichen Gesellschaften gleichsam zementierte. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus - und trotz der massenhaften Entdeckungen über das wahre Ausmaß seiner Verbrechen - mussten die westlichen Gesellschaften den negativen Pol des politisch Bösen, der Diktatur und der Gewalt neu verorten, als Maßstab für die Vorzüge von Freiheit und Demokratie. Da es nun an einem Phänomen von entsprechender Stärke und Gefährlichkeit mangelte, hat man auf das eindringliche Bild von Hitler und den Nationalsozialisten zurückgegriffen.

Wenn in der Kultur der Bundesrepublik Deutschland die Fokussierung auf die Judenvernichtung schon etwas früher begonnen hat, nach allgemeiner Einschätzung bereits in den siebziger Jahren, so könnte das daran liegen, dass die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition jenes Jahrzehnts die kommunistische Bedrohung aus dem Osten beträchtlich herunterspielte. Dementsprechend erhoben sich, als unter dem Einfluss des US-Präsidenten Ronald Reagan Mitte der Achtziger die Rhetorik des Kalten Krieges neubelebt wurde, in der Bundesrepublik Stimmen, die meinten, es sei nun Zeit, einen Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen und die Verbrechen der Nazis zu vergessen. Allerdings stießen weder diese Stimmen noch die große Debatte, die sie in Gang setzten - der sogenannte Historikerstreit -, noch auf sonderlich viel Aufmerksamkeit, nachdem der Kommunismus zusammenbrach und sich Deutschland 1989/90 in Richtung Vereinigung bewegte. Eine Weile lang fand der Versuch, die Verbrechen der Nazis mit denen des Kommunismus gleichzusetzen, einige Anhänger, aber trotz der Publizität, die Figuren wie Ernst Nolte zuteil wurde, war dieses Thema nicht von Dauer. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts spielt die öffentliche Erinnerung an den Nationalsozialismus und seine Verbrechen im historischen Bewußtsein der Deutschen eine so zentrale Rolle wie nie zuvor.

Auch in Großbritannien vollzog sich im Verlauf der Neunziger ein Wiederaufleben der öffentlichen Erinnerung an die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Allerdings gibt es einen subtilen Unterschied zu den Entwicklungen in den USA. In Großbritannien schwingt ein sehr viel deutlicheres anti-deutsches Element mit, und der Holocaust spielt eine weniger zentrale Rolle. In den siebziger und den achtziger Jahren wurde Deutschland in Großbritannien weithin bewundert; Meinungsumfragen ergaben regelmäßig hohe positive Werte für Deutschland und die Deutschen.

Seit 1989 hat sich dies allerdings gewandelt. Jetzt greift die britische Presse regelmäßig auf die Terminologie der Zeit des Zweiten Weltkriegs zurück, wenn es um Geschichten über Deutschland geht - sei es die Beschreibung Oskar Lafontaines als "Gauleiter" oder die Darstellungen von Fußballspielen als Wiederauflage von 1945. Es ist nicht lange her, dass eine Gruppe von Kindern in Cornwall ein paar deutsche Touristen umzingelte, sie als "Nazis" beschimpfte und, angestachelt von ihren Eltern, Steine auf sie warf.

Verstärkt wurde diese anti-deutsche Tendenz zweifellos durch den euroskeptischen Flügel der Partei der britischen Konservativen. Seit Margaret Thatchers feindseligen Ausbrüchen gegen die Europäische Union und die deutsche Vereinigung Ende der achtziger Jahre werden die britischen Konservativen in der Tat vom Euroskeptizismus geleitet. Die Partei, die bei der schwierigen Aufgabe ihrer Selbstdefinition auf ein Feindbild angewiesen ist, hat nicht nur den Kommunismus als Gegenpol verloren, sondern mit der Heraufkunft von Tony Blairs New Labour auch noch den Sozialismus. Indem sie die pro-europäische Haltung von New Labour - so sehr diese auch von Vorbehalten geprägt ist - als eine Form des nationalen Ausverkaufs anprangern, haben die Konservativen einen offenbar brauchbaren Ersatzfeind gefunden. Die negative Bilderwelt von Blitzkrieg und Hakenkreuz hat auch die Funktion, die gegenwärtigen Krise britischer und speziell englischer Identität zu überwinden, denn dünner Tee und Cricket auf dem Dorfplatz haben sich angesichts des triumphalen Auferstehens schottischen und walisischen Nationalbewusstseins als durchaus kraftlose und unzureichende Mittel zur Definition des Englischen erwiesen. Mit anderen Worten: Die wiederbelebten Mythen und Begrifflichkeiten der Zeit des Zweiten Weltkriegs sind nicht zuletzt Resultat des wachsenden englischen Nationalismus in den Neunzigern. Angeheizt wird dies noch - das darf man nicht unterschlagen - durch die fortgesetzte Verdummung der Londoner Presse im Ringen um die Leser.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der Mythos vom Zweiten Weltkrieg in Großbritannien (und besonders in England) wenig oder gar nicht vom Holocaust geprägt ist, wie das in den USA der Fall ist. Stattdessen geht es um die Vorstellung von den Deutschen als militaristische ausländische Aggressoren und Eroberer. Das rührt letzten Endes von der spezifisch britischen Kriegserfahrung her, weit entfernt vom ideologischen Vernichtungskrieg an der Ostfront, und Ereignisse wie die Eröffnung der Holocaust-Dauerausstellung im Imperial War Museum, der Irving-Prozeß oder die Holocaust-Filmwochen dürften an dieser Situation wohl kaum etwas wesentliches ändern. In den Vereinigten Staaten, meint zumindest Peter Novick, ist die unüberschaubare Präsenz des Holocaust in der nationalen Kultur und der öffentlichen Erinnerung nicht zuletzt im erfolgreichen Gedächtnisdruck begründet, den die jüdische Gemeinde der USA ausübt. Für diese Gemeinde ist der Holocaust der einzige gemeinsame Nenner jüdischer Identität in einer sich zunehmend säkularisierenden Welt. Zugleich stellt er ein wirksames Mittel des Selbstschutzes und der Selbstvergewisserung in einer multikulturellen Gesellschaft dar, in der Legitimität und moralischer Einfluß maßgeblich auf dem Status der Opferrolle beruht (die Sklaverei für die Afroamerikaner, die Große Hungersnot für die Iroamerikaner und so weiter).

Diese Kultur des Opferseins fehlt in Großbritannien praktisch ganz, und die Wahrscheinlichkeit, daß der Holocaust einmal ins Zentrum des öffentlichen Bewusstseins rücken könnte, ist dementsprechend gering. Auch die jüdische Gemeinde Großbritanniens neigt zwar deutlich dazu, das Erbe der Opferrolle als verbindenden Faktor zu begreifen, aber da es in Großbritannien einen so ausgeprägten multikulturellen Wettbewerb wie in Amerika nicht gibt, ist man es auch nicht gewohnt, diese Rolle in der öffentlichen Arena so virtuos zu handhaben.

Natürlich spielten jüdische Interessen eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Ausstellung im Imperial War Museum, doch die Idee als solche kam ursprünglich aus militärischen und nicht aus jüdischen Kreisen, und Finanzierung und Organisation wurden vom Museum selbst gesichert. Es ist auch bezeichnend, dass die Ausstellung Teil eines sehr viel größeren Museums ist, das den modernen Krieg darstellt, und keine unabhängige, eigenständige Institution wie in Washington.

Ebenso wurden die Gelder zur Deckung von Deborah Lipstadts Unkosten in dem von Irving angestrengten Verleumdungsprozess von der jüdischen Gemeinde in den USA gesammelt (der größte Teil der Verteidigungskosten[*] wurde von ihrem Verleger getragen, doch blieb sie noch auf beträchtlichen persönlichen Ausgaben sitzen); der entsprechende britische Verband zeigte wenig Interesse, dazu beizutragen.

All das lässt einen zu der Einschätzung kommen, dass der kulturelle Druck, den Holocaust im Gedächtnis zu bewahren, sich in Großbritannien zwar vergrößt hat, zugleich aber nicht wirklich mit der Situation in Amerika vergleichbar ist. Vielleicht hat die jüngste Häufung von Gedenkveranstaltungen der einen oder anderen Art also doch sehr viel mit Zufall zu tun. (Aus dem Englischen von Friedhelm Rathjen)

 

Richard J. Evans ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Cambridge. Sein Buch Rituale der Vergeltung. Die Todesstrafe in der deutschen Geschichte, 1532-1987 erscheint im kommenden Frühjahr im Kindler Verlag. Evans trat als fachwissenschaftlicher Zeuge im Verleumdungsprozß Irving gegen Lipstadt auf und ist Mitglied im Kunstraub-Beratergremium (Spoliation Advisory Committee) der britischen Regierung.


[* Anm. d. Website: Evans erhielt als "neutraler Sachverständiger" den Betrag £70,181.00 -- ca. DM250.000 -- für seine unparteische Aussage im Irving-Prozess.]

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