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Himmler Tagebuch rezensiert

Saturday, March 27, 1999

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Volkswohl und Vernichtung  Der Dienstkalender Heinrich Himmlers wurde bis 1991 in Moskau geheimgehalten. Jetzt liegt die ausgezeichnete Edition für die Jahre 1941/42 vor

BERLINER ZEITUNG.

Datum: 23.03.1999
Ressort: Sonderbeilagen
Autor: Götz Aly

 

Himmler at AuschwitzDer Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42

Im Auftrag der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg bearbeitet, kommentiert und eingeleitet von Peter Witte, Michael Wildt, Martina Voigt, Dieter Pohl, Peter Klein, Christian Gerlach, Christoph Dieckmann und Andrej Angrick. Mit einem Vorwort von Ulrich Lohalm und Wolfgang Scheffler. Christians Verlag, Hamburg 1999, 789 S. , 128 Mark

NOCH im Jahr 1991 galt der Dienstkalender Heinrich Himmlers als unwiederbringlich verloren. In Wirklichkeit hatten ihn Soldaten der Roten Armee 1945 sichergestellt vermutlich in einem der beiden niederschlesischen Schlösser, die das Reichssicherheitshauptamt als bombensichere Archivdepots eingerichtet hatte. So gelangte er nach Moskau, wurde fachgerecht verzeichnet, paginiert und sorgfältigst in einem eigens errichteten, unscheinbaren Amt eingelagert. Gebaut hatten es deutsche Kriegsgefangene an der Peripherie der Stadt, in der Nähe des heutigen U-Bahnhofs Wodnyj-Stadion. Einen Namen trug das Gebäude nicht, Eingeweihte nannten es Sonderarchiv. Es enthält deutsche Originalakten und solche, die Heydrichs SD in fremden Ländern geraubt hatte. Etwa die Dossiers von sage und schreibe einer Million Personen, die die Sicherheitspolizei der Vierten Französischen Republik in den dreißiger Jahren bespitzelt und dann halb freiwillig oder aus Dummheit den Deutschen als Herrschaftsmittel an die Hand gegeben hatte.

Der Großteil der Beuteakten wurde im Lauf der Jahre an die DDR zurückgegeben, je nach Provenienz auch an andere Ostblockstaaten. Aber ein beachtlicher Rest von 194 000 deutschen Akteneinheiten, die aus recht verschiedenen sowjetischen Gründen als besonders wichtig angesehen wurden, blieb im Sonderarchiv, das sich erst im August 1991, in den Tagen nach dem mißglückten Putsch gegen Gorbatschow, öffnete. Sein Ertrag für die NS-Forschung ist hoch. Unter anderem fanden sich dort unbekannte Teile der täglichen Aufzeichnungen Joseph Goebbels (und wurden für die Jahre 1940 bis 1945 bereits von Elke Fröhlich ediert), die Akten des jüdischen Centralvereins bis zu dessen erzwungener Auflösung 1938, die Registratur des SD-Judenreferats bis Ende 1938, eine Geheimrede Görings zum Novemberpogrom, die Bauakten der Krematorien und Gaskammern von Auschwitz-Birkenau und die Zusammenfassung einer Besprechung zwischen Göring und Heydrich vom 26.März 1941, die als Schlüsseldokument für das Raub- und Vernichtungsunternehmen "Barbarossa" angesehen werden muß.

Nicht, daß die deutsche Geschichte zwischen 1933 und 1945 deshalb neu geschrieben werden müßte, aber die Moskauer Urkunden machen das Bild dichter, sie erlauben, eine Reihe kontroverser Fragen außer Streit zu stellen. Zeitgeschichte wirkt definitionsgemäß massiv in die Gegenwart hinein, glüht und raucht noch. Ihr Ende bemißt sich nicht nach einer festen Zeitspanne, sondern allein an der Fähigkeit späterer Generationen, die Folgen des Geschehenen zu bewältigen. Die empirische Forschung trägt dazu bei. Die immer noch notwendige Skandalisierung einzelner Personen, der Banken, der Wehrmacht oder der Historikerzunft selbst ist dabei nur notwendiges Mittel zum Zweck, gerichtet gegen diejenigen, die es sich in einsichtsarmen Vorstellungen von den "braunen Machthabern" (H.-U.Wehler) bequem machen, die von der unbefleckten Soldatenehre oder der widerstandsseligen, allenfalls verführten Arbeiterklasse erzählen. Bei allem Streit historisiert der einzelne Forscher den Nationalsozialismus in wohlverstandener Weise Schritt für Schritt. Er macht ihn kalt, argumentiert für den Geschichtsfrieden, anders gesagt: für das gesellschaftliche Akzeptieren unumstößlicher Tatsachen.

Die Öffnung möglichst aller einschlägigen privaten und öffentlichen Archive würde das erleichtern. Gesperrte Bestände gibt es in Washington, London oder Paris, aber auch in Rußland sind längst nicht alle deutschen Beuteakten zugänglich geworden. Die ausgezeichneten Repertorien des Sonderarchivs weisen Hunderte von Abgaben an den KGB aus, zum Beispiel die regelmäßigen Stimmungsberichte des SD aus dem besetzten Osteuropa. Nichts davon kann für die Forschung genutzt werden. Die Akte "Hans Globke" wurde in den sechziger Jahren an das sowjetische Außenministerium überstellt, ein Benutzungsantrag im Jahr 1992 freundlich abgewiesen. Unzugänglich blieben bis heute auch die Massen von Beuteakten einzelner sowjetischer Armeen, die in Podolsk, nahe Moskau, als Trophäen des Großen Vaterländischen Krieges verwahrt werden. Joschka Fischer sollte sich mit Nachdruck dafür einsetzen, daß dieses in der Tat nationale, sehr deutsche Kulturgut zur Besichtigung freigegeben wird.

Nun also ist er da, der Dienstkalender Heinrich Himmlers, und liegt für die Zeit vom 1.Januar 1941 bis zum 31.Dezember 1942 kritisch ediert und kommentiert vor. Neben dem Diensttagebuch des Krakauer Generalgouverneurs Hans Frank, dem Kriegstagebuch von Franz Halder (dem Generalstabschef des Heeres) und den täglichen Aufzeichnungen von Joseph Goebbels ist dies die wichtigste Überlieferung aus dem Zentrum der NS-Macht. Seine Edition aber war die mit Abstand anspruchvollste Aufgabe. Das Kalendarium besteht nicht aus einem mehr oder weniger durchgeschriebenen Text, es enthält lediglich Termine und Personennamen; ein, zwei Stichwörter zum Besprechungsgegenstand und gelegentlich zum Ergebnis dienten Himmler als Gedächtnisstütze, auf den Außenstehenden wirken sie rätselhaft.

Das Dokument stellte also extreme Anforderungen an den historischen Sachverstand, die genaue Kenntnis der Ereignisgeschichte und ergänzender Quellen, mit deren Hilfe die Notate zum Sprechen gebracht werden mußten. Dazu gehören neben dem nun publizierten Dienstkalender der Tischkalender Himmlers, seine Telefonkladde und tägliche Aufzeichnungen seiner engsten Mitarbeiter, die zum Teil schon im Bundesarchiv lagen.

Deshalb war es notwendig, daß acht Historiker ihre Fachkunde und Energie bündelten. Mehr als 80 Prozent des Buchtextes mußten sie für erklärende, durchaus knappe Fußnoten aufwenden und dennoch viele Fragen offenlassen. Fragen allerdings, die nun durch die Veröffentlichung immerhin gestellt sind. Ein glänzendes Personenglossar, Personen-, Orts- und Sachregister machen den Band bequem benutzbar. Die präzise, kühl und klar geschriebene Einleitung macht den Leser mit Himmler, der noch immer keinen wissenschaftlichen Biographen gefunden hat, hinreichend vertraut, erklärt den Aufbau von SS und Polizei und die staats- und parteipolitischen Funktionen Himmlers.

Die Editoren haben ihre Arbeit 1995 über alle akademische Konkurrenz hinweg begonnen und durchgehalten, und das ohne institutionellen Rückhalt in freier Assoziation. Die "Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg" hat sich zwar auf das Titelblatt gedrängt, aber nicht mehr geleistet als einen Druckkostenzuschuß und die Hergabe ihres Briefkopfs, mit dessen Hilfe die eigentlichen Herausgeber (nun zu "Bearbeitern" herabgestuft) 100 000 Mark (geteilt durch acht!) von der VW-Stiftung beantragten und erhielten. Der deutsche Zwang zur "institutionellen Anbindung" ist nicht nur in diesem Fall der Hebel zur Demonstration institutioneller Scheintätigkeit mit Hilfe des usurpierten geistigen Eigentums anderer. Unbedingt sollte man das Werk künftig so zitieren: Peter Witte u.a. (Hrsg.): Dienstkalender Himmlers...Ganz zu Recht allerdings hat Wolfgang Scheffler das Vorwort mitverfaßt. Er ist in letzter Zeit wegen seiner sprichwörtlichen Säumigkeit ins Gerede und sogar vor die Gerichte gekommen, aber es sind vier seiner Schüler, die an der Himmler-Edition mitgearbeitet haben. Er hat sie ausgebildet und motiviert.

Wie jeder Tagesablauf addierte sich auch der von Heinrich Himmler aus einer Reihe von Banalitäten: Mittagessen mit der Mutter, Besuch der Tochter (Gertrud, genannt Püppi), "Hose angemessen" usw. Aber insgesamt hat man einen Workaholic vor sich, der ständig auf Achse ist, im Flugzeug sitzt, Briefe diktiert, täglich Dutzende von Entscheidungen trifft, Termine abhakt. Das Kalendarium vermittelt eine seltsame Atmosphäre von Volkswohl und Vernichtung. Himmler sorgt sich um Schnaps für die Truppe, um die Bombenopfer von Wilhelmshaven, verwundete Mitarbeiter, Witwen und ledige Mütter, gleichzeitig besichtigt er Massenexekutionen und macht sich anschließend über unblutige, möglichst sterile Vernichtungsmittel Gedanken, um die seelischen Belastungen seiner Männer zu mindern.

Besonders häufig und ausführlich sind die Treffen mit Reinhard Heydrich, dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes, mit Hans Jüttner, dem Chef der Waffen-SS, mit Kurt Daluege, dem Chef der Ordnungspolizei, mit den Experten seiner Zwangsumsiedlungsorganisation, insbesondere des RKF (Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums). Damit sind die vier Arbeitsschwerpunkte Himmlers in den Jahren 1941/42 beschrieben. Im August 1943 ernannte ihn Hitler zusätzlich zum Reichsinnenminister, am 20. Juli 1944 zum Oberbefehlshaber des Ersatzheeres.

Das Kalendarium trägt zur Entdämonisierung bei. Es zeigt Himmler als routinierten Manager, der auf der einen Seite engen und kollegialen Kontakt zu seinen Beratern und persönlichen Mitarbeitern hält, auf der anderen Seite ständig mit Hitler, Lammers, Göring und auch Goebbels zusammensitzt und Entscheidungen mit vorbereitet. Note 18.12.1941Konzentriert man sich auf die antijüdische Politik, die für ihn nur eines von vielen Themen war, dann ergibt das Kalendarium den Hinweis, daß die politische Zielsetzung am 2. September 1941 noch unklar war ("Judenfrage Aussiedlung aus dem Reich") und eine Entscheidung noch nicht getroffen wurde. Am 18. Dezember in der Besprechung mit Hitler lautete das Stichwort "Judenfrage", das Ergebnis: "Als Partisanen auszurotten". [Bild rechts] Noch in der persönlichen Notiz soll dem Völkermord ein Schein der Rechtfertigung gegeben werden.

Jeder Spezialist wird in der Edition einige Fehlerchen und Ergänzungen finden. Aber dar- auf kommt es nicht an: Peter Witte, Michael Wildt, Martina Voigt, Dieter Pohl, Peter Klein, Christian Gerlach, Christoph Dieckmann und Andrej Angrick haben in der knappen Zeit von drei Jahren ein herausragendes Ergebnis erzielt, das nicht eine geschichtswissenschaftliche Institution in Deutschland hätte erbringen können. Sie verdienen dafür jeden irgendwie passenden Preis.

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