BERLINER ZEITUNG. Datum: 23.03.1999 Ressort: Sonderbeilagen Autor: Götz Aly Der
Dienstkalender Heinrich Himmlers 1941/42 Im Auftrag der Forschungsstelle
für Zeitgeschichte in Hamburg bearbeitet,
kommentiert und eingeleitet von Peter Witte,
Michael Wildt, Martina Voigt, Dieter Pohl, Peter
Klein, Christian Gerlach, Christoph Dieckmann
und Andrej Angrick. Mit einem Vorwort von Ulrich
Lohalm und Wolfgang Scheffler. Christians
Verlag, Hamburg 1999, 789 S. , 128 Mark OCH
im Jahr 1991 galt der Dienstkalender Heinrich
Himmlers als unwiederbringlich verloren. In
Wirklichkeit hatten ihn Soldaten der Roten Armee
1945 sichergestellt vermutlich in einem der beiden
niederschlesischen Schlösser, die das
Reichssicherheitshauptamt als bombensichere
Archivdepots eingerichtet hatte. So gelangte er
nach Moskau, wurde fachgerecht verzeichnet,
paginiert und sorgfältigst in einem eigens
errichteten, unscheinbaren Amt eingelagert. Gebaut
hatten es deutsche Kriegsgefangene an der
Peripherie der Stadt, in der Nähe des heutigen
U-Bahnhofs Wodnyj-Stadion. Einen Namen trug das
Gebäude nicht, Eingeweihte nannten es
Sonderarchiv. Es enthält deutsche
Originalakten und solche, die Heydrichs SD in
fremden Ländern geraubt hatte. Etwa die
Dossiers von sage und schreibe einer Million
Personen, die die Sicherheitspolizei der Vierten
Französischen Republik in den dreißiger
Jahren bespitzelt und dann halb freiwillig oder aus
Dummheit den Deutschen als Herrschaftsmittel an die
Hand gegeben hatte. Der Großteil der Beuteakten wurde im Lauf
der Jahre an die DDR zurückgegeben, je nach
Provenienz auch an andere Ostblockstaaten. Aber ein
beachtlicher Rest von 194 000 deutschen
Akteneinheiten, die aus recht verschiedenen
sowjetischen Gründen als besonders wichtig
angesehen wurden, blieb im Sonderarchiv, das sich
erst im August 1991, in den Tagen nach dem
mißglückten Putsch gegen Gorbatschow,
öffnete. Sein Ertrag für die NS-Forschung
ist hoch. Unter anderem fanden sich dort unbekannte
Teile der täglichen Aufzeichnungen Joseph
Goebbels (und wurden für die Jahre 1940 bis
1945 bereits von Elke Fröhlich ediert),
die Akten des jüdischen Centralvereins bis zu
dessen erzwungener Auflösung 1938, die
Registratur des SD-Judenreferats bis Ende 1938,
eine Geheimrede Görings zum Novemberpogrom,
die Bauakten der Krematorien und Gaskammern von
Auschwitz-Birkenau und die Zusammenfassung einer
Besprechung zwischen Göring und Heydrich vom
26.März 1941, die als Schlüsseldokument
für das Raub- und Vernichtungsunternehmen
"Barbarossa" angesehen werden muß. Nicht, daß die deutsche Geschichte
zwischen 1933 und 1945 deshalb neu geschrieben
werden müßte, aber die Moskauer Urkunden
machen das Bild dichter, sie erlauben, eine Reihe
kontroverser Fragen außer Streit zu stellen.
Zeitgeschichte wirkt definitionsgemäß
massiv in die Gegenwart hinein, glüht und
raucht noch. Ihr Ende bemißt sich nicht nach
einer festen Zeitspanne, sondern allein an der
Fähigkeit späterer Generationen, die
Folgen des Geschehenen zu bewältigen. Die
empirische Forschung trägt dazu bei. Die immer
noch notwendige Skandalisierung einzelner Personen,
der Banken, der Wehrmacht oder der Historikerzunft
selbst ist dabei nur notwendiges Mittel zum Zweck,
gerichtet gegen diejenigen, die es sich in
einsichtsarmen Vorstellungen von den "braunen
Machthabern" (H.-U.Wehler) bequem machen, die von
der unbefleckten Soldatenehre oder der
widerstandsseligen, allenfalls verführten
Arbeiterklasse erzählen. Bei allem Streit
historisiert der einzelne Forscher den
Nationalsozialismus in wohlverstandener Weise
Schritt für Schritt. Er macht ihn kalt,
argumentiert für den Geschichtsfrieden, anders
gesagt: für das gesellschaftliche Akzeptieren
unumstößlicher Tatsachen. Die Öffnung möglichst aller
einschlägigen privaten und öffentlichen
Archive würde das erleichtern. Gesperrte
Bestände gibt es in Washington, London oder
Paris, aber auch in Rußland sind längst
nicht alle deutschen Beuteakten zugänglich
geworden. Die ausgezeichneten Repertorien des
Sonderarchivs weisen Hunderte von Abgaben an den
KGB aus, zum Beispiel die regelmäßigen
Stimmungsberichte des SD aus dem besetzten
Osteuropa. Nichts davon kann für die Forschung
genutzt werden. Die Akte "Hans Globke" wurde in den
sechziger Jahren an das sowjetische
Außenministerium überstellt, ein
Benutzungsantrag im Jahr 1992 freundlich
abgewiesen. Unzugänglich blieben bis heute
auch die Massen von Beuteakten einzelner
sowjetischer Armeen, die in Podolsk, nahe Moskau,
als Trophäen des Großen
Vaterländischen Krieges verwahrt werden.
Joschka Fischer sollte sich mit Nachdruck
dafür einsetzen, daß dieses in der Tat
nationale, sehr deutsche Kulturgut zur Besichtigung
freigegeben wird. Nun also ist er da, der Dienstkalender Heinrich
Himmlers, und liegt für die Zeit vom 1.Januar
1941 bis zum 31.Dezember 1942 kritisch ediert und
kommentiert vor. Neben dem Diensttagebuch des
Krakauer Generalgouverneurs Hans Frank, dem
Kriegstagebuch von Franz Halder (dem
Generalstabschef des Heeres) und den täglichen
Aufzeichnungen von Joseph Goebbels ist dies die
wichtigste Überlieferung aus dem Zentrum der
NS-Macht. Seine Edition aber war die mit Abstand
anspruchvollste Aufgabe. Das Kalendarium besteht
nicht aus einem mehr oder weniger
durchgeschriebenen Text, es enthält lediglich
Termine und Personennamen; ein, zwei
Stichwörter zum Besprechungsgegenstand und
gelegentlich zum Ergebnis dienten Himmler als
Gedächtnisstütze, auf den
Außenstehenden wirken sie
rätselhaft. Das Dokument stellte also extreme Anforderungen
an den historischen Sachverstand, die genaue
Kenntnis der Ereignisgeschichte und
ergänzender Quellen, mit deren Hilfe die
Notate zum Sprechen gebracht werden mußten.
Dazu gehören neben dem nun publizierten
Dienstkalender der Tischkalender Himmlers, seine
Telefonkladde und tägliche Aufzeichnungen
seiner engsten Mitarbeiter, die zum Teil schon im
Bundesarchiv lagen. Deshalb war es notwendig, daß acht
Historiker ihre Fachkunde und Energie
bündelten. Mehr als 80 Prozent des Buchtextes
mußten sie für erklärende, durchaus
knappe Fußnoten aufwenden und dennoch viele
Fragen offenlassen. Fragen allerdings, die nun
durch die Veröffentlichung immerhin gestellt
sind. Ein glänzendes Personenglossar,
Personen-, Orts- und Sachregister machen den Band
bequem benutzbar. Die präzise, kühl und
klar geschriebene Einleitung macht den Leser mit
Himmler, der noch immer keinen wissenschaftlichen
Biographen gefunden hat, hinreichend vertraut,
erklärt den Aufbau von SS und Polizei und die
staats- und parteipolitischen Funktionen
Himmlers. Die Editoren haben ihre Arbeit 1995 über
alle akademische Konkurrenz hinweg begonnen und
durchgehalten, und das ohne institutionellen
Rückhalt in freier Assoziation. Die
"Forschungsstelle für Zeitgeschichte in
Hamburg" hat sich zwar auf das Titelblatt
gedrängt, aber nicht mehr geleistet als einen
Druckkostenzuschuß und die Hergabe ihres
Briefkopfs, mit dessen Hilfe die eigentlichen
Herausgeber (nun zu "Bearbeitern" herabgestuft) 100
000 Mark (geteilt durch acht!) von der VW-Stiftung
beantragten und erhielten. Der deutsche Zwang zur
"institutionellen Anbindung" ist nicht nur in
diesem Fall der Hebel zur Demonstration
institutioneller Scheintätigkeit mit Hilfe des
usurpierten geistigen Eigentums anderer.
Unbedingt sollte man das Werk
künftig so zitieren: Peter Witte u.a. (Hrsg.):
Dienstkalender Himmlers...Ganz zu Recht allerdings
hat Wolfgang Scheffler das Vorwort
mitverfaßt. Er ist in letzter Zeit
wegen seiner sprichwörtlichen Säumigkeit
ins Gerede und sogar vor die Gerichte gekommen,
aber es sind vier seiner Schüler, die an der
Himmler-Edition mitgearbeitet haben. Er hat sie
ausgebildet und motiviert. Wie jeder Tagesablauf addierte sich auch der von
Heinrich Himmler aus einer Reihe von
Banalitäten: Mittagessen mit der Mutter,
Besuch der Tochter (Gertrud, genannt Püppi),
"Hose angemessen" usw. Aber insgesamt hat man einen
Workaholic vor sich, der ständig auf Achse
ist, im Flugzeug sitzt, Briefe diktiert,
täglich Dutzende von Entscheidungen trifft,
Termine abhakt. Das Kalendarium vermittelt eine
seltsame Atmosphäre von Volkswohl und
Vernichtung. Himmler sorgt sich um Schnaps für
die Truppe, um die Bombenopfer von Wilhelmshaven,
verwundete Mitarbeiter, Witwen und ledige
Mütter, gleichzeitig besichtigt er
Massenexekutionen und macht sich anschließend
über unblutige, möglichst sterile
Vernichtungsmittel Gedanken, um die seelischen
Belastungen seiner Männer zu mindern. Besonders häufig und ausführlich sind
die Treffen mit Reinhard Heydrich, dem Chef des
Reichssicherheitshauptamtes, mit Hans Jüttner,
dem Chef der Waffen-SS, mit Kurt Daluege, dem Chef
der Ordnungspolizei, mit den Experten seiner
Zwangsumsiedlungsorganisation, insbesondere des RKF
(Reichskommissar für die Festigung deutschen
Volkstums). Damit sind die vier Arbeitsschwerpunkte
Himmlers in den Jahren 1941/42 beschrieben. Im
August 1943 ernannte ihn Hitler zusätzlich zum
Reichsinnenminister, am 20. Juli 1944 zum
Oberbefehlshaber des Ersatzheeres. Das Kalendarium trägt zur
Entdämonisierung bei. Es zeigt Himmler als
routinierten Manager, der auf der einen Seite engen
und kollegialen Kontakt zu seinen Beratern und
persönlichen Mitarbeitern hält, auf der
anderen Seite ständig mit Hitler, Lammers,
Göring und auch Goebbels zusammensitzt und
Entscheidungen mit vorbereitet. Konzentriert
man sich auf die antijüdische Politik, die
für ihn nur eines von vielen Themen war, dann
ergibt das Kalendarium den Hinweis, daß die
politische Zielsetzung am 2. September 1941 noch
unklar war ("Judenfrage Aussiedlung aus dem Reich")
und eine Entscheidung noch nicht getroffen wurde.
Am 18. Dezember in der Besprechung mit Hitler
lautete das Stichwort "Judenfrage", das Ergebnis:
"Als Partisanen auszurotten".
[Bild rechts]
Noch in der persönlichen Notiz soll dem
Völkermord ein Schein der Rechtfertigung
gegeben werden. Jeder Spezialist wird in der Edition einige
Fehlerchen und Ergänzungen finden. Aber dar-
auf kommt es nicht an: Peter Witte, Michael Wildt,
Martina Voigt, Dieter Pohl, Peter Klein, Christian
Gerlach, Christoph Dieckmann und Andrej Angrick
haben in der knappen Zeit von drei Jahren ein
herausragendes Ergebnis erzielt, das nicht eine
geschichtswissenschaftliche Institution in
Deutschland hätte erbringen können. Sie
verdienen dafür jeden irgendwie passenden
Preis. [ Dr
John Fox comments on this | Another comment
] |