Das zeigt das Beispiel der Judenverfolgung, die
für Hitler primär
propagandistisch-weltanschauliche Dimensionen
besaß, aber unter dem Druck des harten,
völkisch-antisemitischen Kerns der NSDAP in
praktische Politik umgesetzt wurde, ohne daß
dafür ein langfristig entwickeltes und politisch
abgewogenes Konzept existierte. Der verstorbene Doyen der
deutschen Zeitgeschichtsforschung, Martin Broszat,
hat diesen Mechanismus in die Formel gekleidet, daß
die Propaganda die Politik schließlich "beim Wort"
nahm.In
Hitlers in Wien vorgeprägtem Politikverständnis
diente der Antisemitismus, wie überhaupt
parteipolitische Programmatik, ausschließlich
manipulatorischen Zwecken und in erster Linie der
Mobilisierung der Massen. Nachdem die NSDAP an die Macht
gelangt war und die Ausschaltung der Juden zum
offiziellen Programm erhoben hatte, trat neben die durch
Goebbels intensivierte antisemitische Rhetorik
eine Eskalation der Verfolgungsschritte, die gemessen an
dem zunächst gesteckten Ziel der jüdischen
Auswanderung, großenteils kontraproduktiv waren.
Aber die verbalen antijüdischen Attacken
entwickelten eine eigene Motorik, die, als unter den
Bedingungen des Krieges die letzten
außenpolitischen Rücksichten entfielen, eine
Eskalation in Gang setzten, an deren Ende die
unmittelbare Realisierung des visionären Endziels,
die "Endlösung" der europäischen Judenfrage
stand.
Es ist deshalb müßig, darüber zu
streiten, von welchem Zeitpunkt an der Diktator die
Liquidierung der Juden als reales Ziel seiner Politik ins
Auge gefaßt hat. Sicher ist,
daß vor 1940 die SS-Führung einen solchen Weg
nicht für möglich hielt. Noch bis Anfang
1942 verfolgte und betrieb sie unterschiedliche, jedoch
sich jeweils durch gesteigerte Grausamkeit auszeichnende
Reservatslösungen, bis schließlich infolge der
militärischen Lage diese Perspektive als obsolet
erschien. Nun erst begann Zug um Zug die systematische
Liquidation, zunächst der nicht arbeitsfähigen
Juden, dann der jüdischen
Gesamtbevölkerung.
Es ist
auch nachträglich nicht leicht, Hitler auf das
spätestens seit Ende 1941 in Gang gekommene
Vernichtungsprogramm festzulegen, da er in offiziellen
und privaten Äußerungen stets die
metaphorische Sprache des klassischen
Rassenantisemitismus bevorzugte und noch 1944 die
Statistiken des Jahres 1938 zitierte, als ob der
Holocaust nicht stattgefunden hätte. Es ist
allerdings nachgerade absurd, zu argumentieren,
wie dies
David Irving getan
hat,
daß der Vernichtungsprozeß hinter Hitlers
Rücken erfolgt wäre.
Wohl
aber scheint Hitler die konkrete Implementierung von
sich ferngehalten zu
haben,
weil er sich der Unpopularität des Genozids
bewußt war.
Die viel zitierte Äußerung vom 30. Januar
1939, in der Hitler die Drohung gebrauchte, im Falle der
Entfesselung eines neuen Weltkrieges werde das Ende in
der Vernichtung der jüdischen Rasse bestehen,
erfolgte im Kontext der Forderung an die Westmächte,
die finanziellen Mittel für die jüdische
Auswanderung aus Deutschland bereitzustellen. Und sie
enthielt zugleich die Wendung, daß es genügend
Raum für deren Unterbringung in der Welt gäbe.
Die Äußerung atmete daher dieselbe Ambivalenz,
wie sie für die herkömmliche antisemitische
Vernichtungsvokabel kennzeichnend war. Die Drohung wurde
daher begreiflicherweise im In- und Ausland als
bloße antisemitische Rhetorik aufgefaßt.
Was
den Weg zum Holocaust angeht, so gab es zwar mittel- und
langfristige Pläne des SS-Apparats und Reinhard
Heydrichs, aber offenbar keine punktuelle
"Entschlußbildung". Dies widersprach überdies
Hitlers Mentalität, der in der Regel die Dinge
laufen ließ, um dann in Form einer "Flucht nach
vorn" den selbst verschuldeten gordischen Knoten zu
lösen. Hitlers typische Wendung: "Dies ist mein
unabänderlicher Beschluß" läßt das
dahinter liegende Zögern und Finassieren deutlich
erkennen, die für Hitlers Politik charakteristisch
waren.
Ebensowenig ist die Wannseekonferenz
vom 20. Januar 1942 -- sie sollte ursprünglich im
Dezember 1941 stattfinden, wurde aber wegen der deutschen
Kriegserklärung an die USA aufgeschoben -- ein
Datum, das den Entschluß zur "Endlösung"
definitiv spiegelt: Heydrich erwog nämlich noch
Wochen später ein Reservat für die 11 Millionen
europäischen Juden in der der Gestapo vorbehaltenen
Eismeerregion. Die Implementierung der Shoah
(Judenvernichtung) stellt vielmehr einen Prozeß
dar, der spätestens im August 1941 mit der
Ausweitung der Tätigkeit der Einsatzgruppen
einsetzte, aber nicht vor dem Frühjahr 1942 andere
"Lösungs"-Versuche obsolet gemacht hatte.
Diese und andere Beispiele zeigen, daß die
Politik des Dritten Reiches nicht einfach als Resultat
des persönlichen Entscheidungshandelns Hitlers oder
womöglich eines festliegenden Stufenplanes gedeutet
werden kann. Vielmehr konnte die verhängnisvolle
zerstörerische Potenz seines Regimes erst im
Zusammenwirken mit einer Vielzahl von "Vollstreckern" und
Sympathisanten zugleich einer spezifischen Dynamik zur
Wirkung gelangen, die der Struktur des faschistischen
Systems entsprang.
Dies
lenkt den Blick auf die Wiener Anfänge zurück,
die ebenso zeigen, daß eine ausschließlich
Hitler-zentrische Interpretation der Geschehnisse das
Dritte Reich nicht hinreichend erklären kann. Sie
läßt insbesondere unbeantwortet, warum es bis
dahin unerhörte destruktive Potenzen freisetzte und
in der Zerstörung Europas endete.
Es hat den Vorwurf an die funktionalistische Schule
gegeben, die Rolle Hitlers durch diese Betrachtung zu
verharmlosen und letzten Endes damit zu entschuldigen.
Diese Kritik der angeblichen Verharmlosung läuft auf
eine moralische Diffamierung hinaus. Denn die
Relativierung der Rolle Hitlers und die Betonung seiner
persönlichen Mediokrität, die durch die
Wien-Studie der österreichischen Historikerin
Brigitte Hamann (Hitlers Wien. Lehrjahre eines
Diktators. Piper Verlag) erneut belegt wird, bedeutet ja
keine Eskamotierung (Verdrängung) der Verantwortung,
legt diese allerdings auf breitere Schultern. Hitler war
im selben Maße Produkt der in Deutschland
bestehenden Verhältnisse, wie er dieselben
beeinflußt und ausgenützt hat.
Die Gewaltpolitik des Dritten Reiches auf eine
zielgerichtete und machiavellistische Politik des
Parteiführers und Diktators
zurückzuführen, ist eine begreifliche, aber
gleichwohl irreführende Vereinfachung des komplexen
Geschehens, die primär apologetischen Motiven
entspringt.