http://www.weltwoche.ch/3598/35.98.wahrodernicht.html
Binjamin
Wilkomirskis
«Bruchstücke», das derzeit
erfolgreichste Schweizer Buch, ist eine
Fiktion
Die
geliehene Holocaust-Biographie
Kommt einer und behauptet, er
sei im Innern der Hölle gewesen,
fühlen wir gedankenlos mit. Er
nimmt uns die Aufgabe ab, Auschwitz
zu verstehen. Von Daniel Ganzfried BINJAMIN WILKOMIRSKI alias Bruno
Doessekker, um 1956 Ein Kind kommt im
Alter von zwei bis drei Jahren ins
Räderwerk der nationalsozialistischen
Vernichtungs-Maschinerie, überlebt
Majdanek, Auschwitz, überlebt die
ganze Fahrt durch das Horrorlabyrinth und
wird schliesslich an die Gestade des
Zürichsees gespült, wo es das
Erlebte bei sich behält, bis es als
längst erwachsener Mann zu schreiben
beginnt. Das Manuskript landet bei der
angesehenen Zürcher Literaturagentur
Liepman und erscheint schliesslich unter
dem Titel
«Bruchstücke,
aus einer Kindheit 1939-1948»
1995 im jüdischen Verlag bei
Suhrkamp. Seither steht Binjamin
Wilkomirski im Licht der
Öffentlichkeit. Dies Kind, ein Mensch
aus Fleisch und Blut, geht um die Welt.
Übersetzungen in mehr als ein Dutzend
Sprachen, bis jetzt drei Filme, ein
Theaterstück, gelehrte Abhandlungen,
unzählige Features und Rezensionen -
nichts fehlt, um vor dem grossen Auftritt
der literarischen Schweiz in Frankfurt
noch einmal auf dieses seit Jahren
erfolgreichste Buch aus unserem Lande
hinzuweisen. Vergleichbar ist ihm vielleicht noch
Zoë Jennys
«Blütenstaubzimmer»,
ein anderes kleines Büchlein, das
einige Jahre später im selben Verlag
erschien. Aber es wurde immerhin als Roman
rezipiert, was es im Bereich der Unschuld
belässt. Wir lesen
«Bruchstücke» und sind
erregt von der Brutalität des
Beschriebenen, aber auch etwas
abgestossen: Ratten fressen sich aus toten
Leibern ins Freie, zertrümmerte
Kinderschädel verspritzen Gehirnmasse
über schlammigen Schnee, ein Vater
speit Blut im Bogen aus, als er vom
Fahrzeug zu Tode gequetscht wird, und zwei
sterbende Kinder nagen sich Hungers ihre
schon erfrorenen Finger bis auf die
Knochen ab. Alles eine antisemitische
Verschwörung? Solche Episoden
müssen jeden Leser ins Herz treffen,
da kann für den Autor nichts
schiefgehen, denken wir, lesen weiter und
wehren die Schalheit ab, die uns zwischen
der Grobheit der Darstellungen und dem
poesiealbumhaften Pathos der Sprache
befällt. Als würde hier einer
ohne jedes eigene Zutun beschreiben, was
ihm aus einem abscheulichen Bildband mit
schlechten Kommentaren
entgegenschlägt. Die Anteilnahme an diesem Schicksal,
das der Autor als sein eigenes reklamiert,
will Fragen verbieten. Wir möchten
das Büchlein ins Gestell verbannen,
Abteilung Holocaust. Aber ein Vorbehalt
lässt sich nicht beiseite
drängen: In welchem Grund wurzelt die
hier wiedergegebene Erinnerung eines
Mittfünfzigers an seine früheste
Kindheit? Ein Schlusswort «zu diesem
Buch» hält fest, dass er keine
Geburtsurkunde habe, nur einen
«behelfsmässigen Auszug»,
der den 12. Februar 1941 als Geburtsdatum
angibt. Die Dokumentarfilme klären
nichts, ebensowenig die schriftlichen
Publikationen. Auch nach unserem mehr als
siebenstündigen Gespräch mit dem
Autor in seinem lieblich renovierten
Thurgauer Bauernhaus ist keine unserer
Fragen beantwortet. Wer ist Binjamin
Wilkomirski? Das Produkt eines kreativen
Aktes von Bruno Doessekker, wie er
bürgerlich heisst und an seinem
Briefkasten angeschrieben steht,
genährt mit historischer Recherche?
Oder tatsächlich das Kind aus Riga,
der Tötungsfabrik entronnen? In einem Vortrag am Psychoanalytischen
Seminar Zürich, Anfang dieses Jahres
gehalten und ab Tonband zu hören,
begegnet uns Wilkomirski als Vertreter
einer therapeutischen Methode, der
«interdisziplinären
Therapie». Sie will Menschen ohne
gesicherte Identität
«therapieren», indem sie
Erinnerungsfetzen ans Licht hebt, ihnen
passende Fakten und Örtlichkeiten aus
der realen Geschichte beifügt. Auf
diese Weise soll eine eigene
Lebensgeschichte, Identität
inklusive, zurückgewonnen werden. Auf die naheliegende Frage, wie Fiktion
und Faktizität, die beiden
Bestandteile einer jeden erzählten
Erinnerung, voneinander unterschieden
werden, warten wir vergeblich. Das
Publikum, in der Mehrheit immerhin
ausgebildete Analytiker, zog es vor,
erschauert zu schweigen, wie uns
verschiedene Teilnehmer der Veranstaltung
bezeugen. Tage später, bei unserer
Begegnung, bietet Wilkomirski folgende
Theorie an: Die traumatische Erinnerung
bewahre glasklar in der Seele, was sich
einst, selbst im jüngsten
Kindesalter, zugetragen habe. Wir sitzen mit Binjamin Wilkomirski am
Tisch. Wohin das Auge blickt - Judaica:
Wandbehänge mit biblischen Motiven,
Mesusot (Türkapseln) an jedem Durch-
und Eingang, Davidsterne und Bilder aus
dem Heiligen Land. Uns ist, als könne
jederzeit ein Rabbiner vorbeikommen, um
das Glaubensbekenntnis seines Konvertiten
zu überprüfen. Ein
beeindruckendes Archiv scheint zu
bezeugen, dass der Mann, ausgerüstet
mit allen Mitteln der modernen
Kommunikation, es ernst meint mit der
Erforschung historischer
Faktizität. Auf unsere Fragen nach dem
schweizerischen Teil seiner Vita -
Jahreszahlen, Heimatgemeinde,
Aufenthaltsort, bevor er nach Zürich
kam, Fotomaterial aus seiner Kindheit -
begnügt er sich mit einer
Verschwörungstheorie. Nur soviel: Ein
Komplott aus antisemitischen
schweizerischen Gemeindebeamten,
kaltherzigen Pflegeeltern und korrupten
Behörden soll dem Kind durch eine
gefälschte Identität seine
jüdische Herkunft ausradiert und dem
Heranwachsenden unter Androhung von Strafe
Mund und Seele versiegelt gehalten
haben. So wurde der Holocaust an ihm
schliesslich doch noch vollendet, durch
die Schweiz, denken wir - und es passt uns
allzu wohlfeil in die aktuelle
schweizerische Geschichtstrunkenheit. Wir
geben zu, dass wir einiges nicht glauben,
und ziehen von dannen, denken aber, eine
genauere Recherche würde sicher auch
ihm helfen, seine Geschichte zu belegen.
Wir treffen Bekannte von Bruno Doessekker
aus der Schulzeit. Sie zeigen uns
Fotografien, erzählen Geschichten.
Alles in allem gewinnen wir den Eindruck
eines wohlerzogenen, in grosszügigem
Elternhaus aufwachsenden, von einer ihn
abgöttisch liebenden Mutter und einem
etwas steifen Vater umsorgten jungen Bruno
Doessekker. Zwei Talente sind schon früh
aufgefallen: Er musiziert mit Verve und
erfindet hie und da absonderliche
Geschichten, die sich als Legende
entpuppen. Der Junge hat erste
Freundinnen. Keine von ihnen kann uns
bestätigen, dass er damals
beschnitten war. Aber das heisst nichts,
viele Kinder wurden damals nicht mehr
beschnitten. Auch dass er ein begeisterter
Skifahrer war, auf und neben den Pisten,
besagt sowenig wie alle übrigen
Episoden, die ein ganz anderes Bild des
jungen Bruno ergeben, als dieser es in
Buch und Gespräch erzeugt. Zum
Beispiel soll er sich angesichts eines
Skiliftes zu Tode erschreckt haben, weil
er ihn an die Leichenkarren in die
Verbrennungsöfen erinnert
hätte. Die Fotografien, die wir sehen, nachdem
er uns keine einzige zeigen konnte,
hinterlassen das Bild eines schönen
jungen Menschen mit gewelltem Haar,
sanften Augen, ganz auf der Höhe der
Moden seiner Zeit. Immer noch räumen
wir der Möglichkeit, der Mann habe
seine Geschichte tatsächlich erlebt,
jeden Spielraum ein. Wir sind
zuversichtlich, dass in einem Land wie der
Schweiz kaum jemand aufwächst, ohne
diverse Spuren zu hinterlassen, die sein
Leben einigermassen schlüssig
zurückverfolgen lassen. Wir sind aber
auch erstaunt, dass Wilkomirski alias
Doessekker diesen Spuren nicht schon
selber nachgegangen ist. Dieser Zeuge war
nie in der Hölle Und sind mehr als
erstaunt, als er sich bald telefonisch und
schriftlich drohend gegen weitere
Nachforschung verwahrt. Vom Suhrkamp-Verlag erfahren wir,
Wilkomirskis Schweizer Anwalt habe
schriftlich bestätigt, es sei
unmöglich, Bruno Doessekkers
Identität bis zur Geburt zu sichern.
Uns sagt der Anwalt, Herr Wilkomirski
selber habe auf die Akteneinsicht bei den
Ämtern verzichtet. Für ihn als
Anwalt sei damit die Sache erledigt
gewesen. Offenbar auch für den
Verlag, dem dieses sein Schreiben
genügt hat. Im Zürcher Stadtarchiv stossen wir
auf das erste Dokument, das uns stocken
lässt. Bruno Doessekker wurde am 22.
April 1947 an der Primarschule Zürich
Fluntern in der ersten Klasse eingeschult.
Er hatte im ersten Jahr 25 Absenzen und
gab in keinem der folgenden Jahre Anlass
zu Bemerkungen der Lehrkräfte. 1947?
Wir erinnern uns. In einem der Filme
(«Das gute
Leben ist nur eine Falle, ein Besuch bei
B.W.», Eric Bergkraut,
3sat) wird festgehalten, dass Wilkomirski
erst ab 1948 in der Schweiz lebte. Wir
lesen sein Buch erneut: Die Begebenheiten,
die er aus der Nachkriegszeit als eigenes
Erleben in Polen schildert, lassen es
schwerlich zu, dass er 1947 in der Schweiz
zur Schule ging. Doch wir wollen uns nicht
schon festlegen. Nur ist da noch dieser
Altersunterschied von drei Jahren, den er
auf alle seine Klassenkameraden gehabt
hätte. Niemandem fiel etwas auf,
sowenig wie an seiner Sprache -
Zürichdeutsch ohne Wenn und Aber.
Drei Jahre sind in einem Kinderleben viel,
im Alter von sechs bis sieben fast die
Hälfte des gelebten Lebens, sagen wir
uns und suchen weiter. Ein Foto zeigt uns
den jungen Bruno sogar schon im Sommer
1946 im Kreise seiner Nächsten
putzmunter vor der Villa am
Zürichberg. Es wird langsam knapp im Buch, aber
noch neigen wir dazu, im Grundsatz zu
glauben. Unterdessen treffen weitere
Interventionen ein. Wilkomirski und eine
ihm offenbar sehr verbundene Aktion Kinder
des Holocaust bitten schriftlich und
mündlich, von weiteren Recherchen
abzusehen. Wilkomirskis ohnehin
beeinträchtigte Gesundheit als
Auschwitz-Überlebender würde
dadurch weiter geschädigt. Wir
entschliessen uns zur Diskretion, nachdem
uns der Name seiner Heimatgemeinde aus den
Akten bekannt wurde: 2732 Saules bei
Tavannes. Die vorläufigen Umrisse der
Geschichte geben folgendes Bild: Am 12.
Februar 1941 gebar Yvonne Berthe Grosjean
in Biel ein uneheliches Kind. Name:
Bruno Grosjean, Heimatort: Saules
bei Tavannes, Kanton Bern. Der Bruder von
Yvonne Grosjean möchte sich um
den Kleinen kümmern, kann aber nicht
verhindern, dass Bruno vorübergehend
in ein Kinderheim nach Adelboden kommt und
1945 zur Adoption freigegeben wird. Herr
und Frau Doessekker, ein Ärzteehepaar
aus Zürich Fluntern, kinderlos,
erhalten das Kind vorerst zur Pflege. Vor der Einschulung am 22. April 1947
in die Primarschule Fluntern wird ein
Gesuch um Namensänderung bei den
kantonalbernischen Behörden
eingereicht. Nach dessen Bewilligung
heisst Bruno nicht mehr Grosjean, sondern
Doessekker, wie seine Pflegeeltern. Bruno
Doessekkers leiblicher Vater, der
später noch Kinder hatte, bezahlte
Unterhaltsbeiträge, bis 1957 die
Adoption rechtskräftig wird. Frau
Grosjean heiratet später einen Walter
Max Rohr, heimatberechtigt in
Hunzenschwil, Aargau, und starb 1981, kurz
nach ihrem Ehemann, in Bern, wo sie auf
dem Bremgartenfriedhof in einem Urnengrab
bestattet wurde. Bruno Doessekker machte am Freien
Gymnasium Zürich die
eidgenössische Matur, wurde Musiker
und Instrumentenbauer, Vater von drei
Kindern. Da seine leibliche Mutter keine
weiteren Kinder hatte, fiel ihr Nachlass
an ihn, der das kleine Erbe wohl antrat.
1985 starben auch seine Adoptiveltern.
Seither lebt Bruno Doessekker in
Wohlstand. Auch wenn er seine
Türschilder mit der neuen
Identität beschriftet - Binjamin
Wilkomirski ist ein Pseudonym, sein
Träger war nie als Insasse in einem
Konzentrationslager. All dies musste mit grossem
Recherchieraufwand herausgefunden werden,
weil Wilkomirski alias Doessekker die
Einsicht in die betreffenden Akten nicht
gestattet, was als Privatmann sein gutes
Recht ist, aber auch bestätigt, dass
er tatsächlich von den Akten
betroffen und Geheimnisherr in Sachen der
verstorbenen Frau Grosjean ist. Die
Veröffentlichung seines Buches und
seine Vortragstätigkeit aber machen
den Privatmann Doessekker zur
öffentlichen Figur Wilkomirski, die
sich Fragen derselben Öffentlichkeit
zumindest gefallen lassen muss. Unsere
Recherche lässt keinen andern
Schluss mehr zu: Wilkomirski ist in der
Schweiz geboren, in bestem Zürcher
Hause aufgewachsen. Sein Buch wäre
als Roman diskutierbar. Es entbehrt
nicht der historischen Sorgfalt.
Schliesslich hat der Autor, wie uns
erzählt wurde, in Genf Geschichte
studiert, ein Lizentiat über die
Konferenz von Evian angefangen und
Geschichte weiterhin aus Leidenschaft
betrieben, was sein immenses Archiv
bezeugt. Nun beansprucht sein Buch aber
explizit Zeugenschaft. Wir versuchen
seinen schreibenden Akt zu verstehen, der
offenbar so weit ging, dass sich der Autor
eine Romangestalt mit Haut und Haaren
einverleibt hat. Irgendwo auf der Grenzlinie zwischen
Fiktion und Geschichtsforschung muss ihm
die Distanz zu seinem erschriebenen ich
eingestürzt sein, so dass er ich
wurde. Wilkomirski alias Doessekker ist
kein Schriftsteller. Sein Bericht bewegt
sich nicht im Reich der Literatur. Er ist
wahrscheinlich die verinnerlichte
Bildersammlung eines Menschen, dem die
Phantasie durchgebrannt ist - ganz
unabhängig davon, ob es einen
Wilkomirski gegeben haben könnte, von
dem Doessekker die Grundzüge seiner
Lebensgeschichte im KZ entlehnt
hätte. Aber das erklärt nicht den
überwältigenden Erfolg. Es
erklärt nicht, weshalb jedes
ernstzunehmende Feuilleton dieses Buch
gefeiert hat, als handle es sich um die
Originalniederschrift des Alten
Testaments. Es erklärt auch nicht,
dass die halbe Psychoanalytikergemeinde
von Zürich bis Israel sich so weit
irreführen lässt, dass sie dem
Glauben verfällt, statt beharrlich
nachzufragen. Es erklärt nicht, wie
allein in der Schweiz zwei Filme gedreht
werden konnten, beide auch mit
öffentlichen Geldern finanziert, die
vorgeben, Dokumentarfilme zu sein, und der
Figur des Binjamin Wilkomirski folgen,
ohne auch nur einen Fakt aus dem Leben des
Bruno Doessekker zu klären. Na und?, kann man einwenden, wenn es
gut erfunden ist? Karl May sei auch nie
bei den Apachen gewesen, sein
Häuptling Winnetou nichts als eine
Überhöhung damals
vorherrschender Gesamttugenden, was die
Bücher ja nicht schlechter mache. Und
wenn ein Buch über ein
Kinderschicksal aus dem
Konzentrationslager diese Fülle an
Mitgefühl provoziert, so mag es
ebenso zur Erhebung seiner Leser
beitragen. Nur: Karl May hat mit dem
Häuptling der Apachen, mit Kara Ben
Nemsi und wie sie alle heissen,
literarische Figuren geschaffen, die
jederzeit als solche erkennbar sind. Bruno
Doessekker/Wilkomirski hat nichts zustande
gebracht als ein Ich, das jede Frage nach
der literarischen Qualität zu
verbieten scheint. Die Realität der
Konzentrationslager dient ihm als
Rohmaterial für eine fiktive
Biographie. Spätestens bei Erscheinen
seines Buches und dem überraschenden
Echo muss er sich entschlossen haben, der
Mitwelt gegenüber zu verkörpern,
was er sich ausgedacht hat. Seine
Kreativität beschränkt sich auf
die mimetische Schauspielkunst. Wo
Winnetou heute auf einer
Freilichtbühne in Bayern auftritt,
weiss jedes Kind, wie der Schauspieler
heisst. Bei Wilkomirski aber, der auf
vielen Bühnen tanzt, verhält es
sich anders. Er hält Vorträge, bietet
seine Dienste als Experte für
Rückgewinnung von Identität an,
nimmt Gelder öffentlicher
Institutionen entgegen - alles unter der
Voraussetzung, dass er der ist, für
den er sich ausgibt. Tritt er wieder ab,
meinen zum Beispiel die Schüler an
einer Zürcher Kantonsschule, sie
hätten mit eigenen Augen einen
gesehen, der leibhaftig aus der Hölle
zurückgekommen ist. An die Hölle
glaubten sie nie. Aber nun müssen sie
erfahren, dass auch der Zeuge falsch
war. Bald glauben sie gar nichts mehr, und
morgen schon neigen sie dazu, dem zu
glauben, der ihnen erzählen will,
dass Auschwitz nur ein Arbeitslager war,
wo leider auch ein paar Insassen zuviel
gestorben seien. Gerade vor der
Faktizität der Todesfabriken, von den
Nazis so angelegt, dass niemand ihre
Existenz je für möglich halten
würde, kommen der Zeugenschaft und
dem Vertrauen, das die Nachwelt in sie
haben können muss, eine besondere
Verantwortung zu. Es erscheint menschlich, dass man
einem, der aussagt, im Innern der
Hölle gewesen zu sein, um so mehr
glaubt, als er durch seine Person so
plastisch bezeugt, was sich unsere
Gedanken niemals anzueignen vermögen.
Er nimmt uns die Aufgabe des Nachdenkens
und die erschütternde Erfahrung des
Versagens unseres Menschenverstandes vor
dem Faktum Auschwitz ab. Wir benützen
das Erleben des andern, um nicht denkend
wettmachen zu müssen, was sich der
Vorstellungskraft entzieht. Gedankenlos
mitleidend, finden wir im Opfer den
Helden, mit dem wir uns auf der Seite der
Moral verbrüdern können:
Binjamin Wilkomirski. Wer uns dies
ermöglicht, braucht mehr nicht zu
leisten, als sich vor das Eingangstor nach
Auschwitz zu stellen: «Ich bin
derjenige, der von dort kommt!» Es mag erstaunen, wie billig sich die
Rezipienten und Multiplikatoren in Film
und Literatur abspeisen lassen. Dass ihnen
aber vor einem Konstrukt wie Wilkomirskis
Lebensgeschichte nicht nur die Freiheit zu
fragen, sondern auch der Mut des eigenen
Urteils abhanden kommt, muss erschrecken.
Mit dieser Urteilsunfähigkeit bleibt
auch der Anspruch auf Qualität auf
der Strecke - was die einmütig
überhöhte Meinung zu
Wilkomirskis und anderer schlichtwegs
schlechter Produkte hiesiger Literatur und
Kunst belegt. Dass Auschwitz
nun aber als Fundus der Lebenslüge
von Leuten dient, die in ihrer
Wohlstandsbiographie zuwenig
Erzählenswertes finden, um daraus
eine Legende zu spinnen, und dabei nach
Gutdünken des Kulturbetriebes zur
Verwurstung abgetragen wird wie im
vorliegenden Fall: das muss zur
couragierten Gegenwehr bewegen. Auch wenn wir davon ausgehen, dass erst
die Leichtgläubigkeit vieler, die nur
das Beste für ihren Opferhelden
Wilkomirski wollten, Bruno Doessekkers
Wilkomirski-Kreation zum Wahn
verführt hat, man könne sich die
exotische Lebensgeschichte eines
jüdischen Kindes aus Riga
überstreifen und fortan mit der
faszinierenden Identität des
Leidgeprüften durchs Leben gehen. Mitleid ersetzt das Denken Bruno
Doessekkers Pseudologie fiel in eine Welt,
die sich emsig damit beschäftigt, die
Wundmale ihrer Geschichte mit Prothesen
und Narkotika zu heilen. Wer will,
schlägt sich auf die Seite der
Gläubigen, wo unter
mitleidsüchtiger Anteilnahme die
schwärende Wunde Auschwitz im
Körper der Menschheit schmerzlos
weiter fault. Hier ist Mitleid ein
erhebendes Gefühl. Es hilft über
manchen menschlichen Abgrund, bringt uns
den andern zwar nicht näher, aber uns
wenigstens näher zu ihm hin. Wenn Mitleid, die letzte Tugend des
guten Menschen, über den Abgrund von
Auschwitz zu verführen beginnt, so
schwindet genau das, was am Faktum selber
den weltabgewandten Charakter und in der
Folge die Schwierigkeit des Erinnerns
ausmacht: die Bodenlosigkeit. Die
industrielle Massentötung, das
Zentrum des nationalsozialistischen
Herrschaftssystems, verschwimmt zur
Episode. Menschlichkeit füllt den Graben,
vor dem unserem Verstand nur grauste,
wäre der Versuch zu verstehen nicht
immer wieder ein Akt des Widerstandes:
gegen jenen Ort der Stille, der auf unser
Nicht-Verstehen angelegt war und wo das
Experiment der totalen Herrschaft in
Erfüllung ging, während
rundherum die Welt im Geschäft des
Krieges abgelenkt war. Binjamin
Wilkomirski alias Bruno Doessekker aber
kennt Auschwitz und Majdanek nur als
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