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Warum wird einer zum Leugner des Holocaust, während ein anderer sich freiwillig als Opfer meldet? Grob gesagt, hat Wilkomirski ein Mutter-, Irving ein Vater-Problem.

 

Frankfurter Rundschau

Frankfurt (Main), Samstag, 2. Dezember 2000


Spiegelungen des Holocaust

Das Phantasma und sein Echoraum: Wilkomirski und Irving

Katharina Rutschky

DER Streit um die Unvergleichbarkeit des Holocaust mit anderen, systematisch geplanten und verübten Verbrechen in der Geschichte der Staaten und Völker mag lehrreich sein und den Scharfsinn der Forscher beflügeln. Auf einer anderen, unbeachteten Ebene, nämlich der der Emotionen, der Affekte und Anschluss suchenden Fantasien scheint er mir längst zu Gunsten der Unvergleichbarkeit entschieden. Ein halbes Jahrhundert nach dem Ende der bloß 12-jährigen Naziherrschaft spuken die Täter genauso wie die Opfer in der Welt der Nachgeborenen wie sonst nur die Untoten im imaginären Transsylvanien des Schauerromans.

Gewiss kann man den Holocaust wie jedes ande re historische Ereignis erforschen und beschreiben; man kann ihn auch politisch, juristisch, ethisch usw. aufarbeiten und einordnen -- zumindest muss der Versuch immer wieder gemacht werden. Aber heute lässt sich erkennen, dass weder Kenntnisse noch Urteile seine Realität einzuholen imstande sind. Diese Vergangenheit kann tatsächlich nicht bewältigt werden. Es ist fatal, aber nicht länger zu übersehen, dass deshalb nicht nur die Ewiggestrigen und die neuen Unbelehrbaren von den Phantasmen des Dritten Reichs angesaugt und verführt werden, sondern auf ihre Art auch aufgeklärte und moralisch intakte Personen.

Im übrigen lässt sich nicht übersehen, dass sogar die neue Internationale der so genannten Revisionisten keineswegs nur aus Alt- und Neonazis besteht, sondern aus fleißigen und scharfsinnigen Personen, die die Realität und das Wissen um den Holocaust voraussetzen, ehe sie daran gehen, ihn zu relativieren, kleinzureden und durch die Korrektur der allerunwichtigsten Details irgendwie dann doch im Ganzen in Frage zu stellen.

LipstadtSo hat David Irving in dem Verleumdungsprozess, den er gegen die amerikanische Revisionismusexpertin Deborah Lipstadt (rechts) angestrengt hatte, halb ironisch darauf hingewiesen, dass Anne Frank an Typhus gestorben ist. Er insinuierte also, dass sie völlig zu Unrecht als Symbolfigur des Holocaust verkauft worden sei.

Dazu hätte sie, auch das sagte er nicht direkt, doch vergast und verbrannt werden müssen. Und wenn sogar Anne Frank nur an Typhus gestorben ist, dann, so der in seinen diabolisch anmutenden Zweifeln völlig gefangene Irving, steht die "Endlösung" doch auch zur Debatte, zumal auch Hitler kein diesbezügliches Aktenstück gezeichnet hat ... Usw. usf. -- Das alles ist falsch und schlimm; geht man aber ein wenig auf Distanz, dann kann man in der Zwanghaftigkeit, ja Triebhaftigkeit, mit der das revisionistische Projekt von Irving betrieben wird, auch die Abwehr erkennen (Eva Menasse, Der Holocaust vor Gericht -- Der Prozess um David Irving, Siedler Verlag, Berlin 2000).

Kürzlich war zu lesen, dass in Rostock ein zehnjähriges Kind von unbekannten Tätern entkleidet und mit Filzstift auf Rücken und Bauch beschriftet wurde.

"Sieg Heil" und "88" (für "Heil Hitler" nach der Ziffer des Buchstabens H im Alphabet) hat die Polizei gelesen und zu Protokoll genommen. Nun ermittelt sie wegen Körperverletzung, aber auch wegen der Verwendung von Kennzeichen verfassungsfeindlicher Organe.

Wie ist mit einem Irving, wie mit Neonazis und Rechtsradikalen umzugehen, die, wie an vielen weiteren Beispielen aus der letzten Zeit zu belegen, die Biederkeit des humanistischen Antifaschismus vorführen, indem sie ihm mit Wissenschaftsparodien, Radikaldemokratie (Meinungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit, keine Gesinnungsjustiz) und Provokationskunst auf Felder folgen, wo Nazis und Rechte bis dahin noch nie gesichtet wurden? Der bewegliche und flüchtige Rechtsradikalismus der Nachgeborenen hat die anständige Gesellschaft weniger zum Gegner als zur Voraussetzung. Denn sie bildet den Echoraum, in dem weiße Schnürsenkel und Springerstiefel, das Logo "Lonsdale" auf einem Sweatshirt oder ein Hakenkreuz den Holocaust von gestern und morgen evozieren.

Zwar weiß man, dass nicht jeder Blut sehen kann und der Arztberuf deshalb nicht jedem offen stehen kann, der altruistisch handeln will. Allzu arglos haben wir aber bisher immer vorausgesetzt, dass die Aufklärung über den Holocaust und das Dritte Reich bei den Adressaten nur Gutes bewirken könne. An Aufklärung fehlt es aber bei keinem Neonazi, und wenn er sie vermisste, wäre jeder Stadtbibliothekar froh, ihm weiterhelfen zu können. Andere ignorieren die Saugkraft eines psychotischen Wahns, der tatsächlich die Welt einmal erzittern ließ und dessen Zitat heute zumindest für eine Meldung im Regionalfernsehen gut ist. Sollen diese blasphemischen Taten verschwiegen, den Tätern wenigstens der Medienerfolg versagt werden, auf den sie es oft direkt angelegt haben? Das hieße aber andererseits, die anständige Öffentlichkeit in Sicherheit zu wiegen und ihr wichtige Alarmsignale vorzuenthalten.

Man kann eigentlich nur Fehler machen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Gegner des Berliner Mahnmals für die ermordeten Juden Europas ihre Ablehnung mit einem höheren Problembewusstsein und einer feineren Sensibilität für die ethischen und ästhetischen Fragen begründen. Seinen Befürwortern glaubt man den moralischen Willen und jede gute Absicht, doch im Hinblick auf den Holocaust eben nicht die ganz besondere Kompetenz. Öfter ist ja auch schon behauptet worden, dass die Debatte um das Mahnmal das eigentliche Mahnmal bildet. Ebenso ließe sich vermuten, dass die seit Jahren immer länger werdende Liste von peinlichen Entgleisungen, missverständlichen oder missverstandenen Gesten, Worten und Reden im Gravitationsfeld des Holocaust "sachdienlicher" oder zumindest authentischer sind als eine gesicherte Gedenkkultur es wäre, in der Fehlleistungen nicht mehr zu befürchten wären.

 

Der Fall des Schweizers Bruno Doessekker alias Binjamin Wilkomirski und der des Briten David Irving zeigen auf je eigene, aber exemplarische Weise, dass die Beunruhigung, die vom Holocaust ausgeht und auch Nichtjuden und Nichtdeutsche anzieht, eine Gedenkkultur immer verhindern wird. Was haben der Schweizer, der sich für einen Überlebenden von Auschwitz ausgibt, und der britische Schriftsteller, der den Holocaust für eine Fiktion hält, überhaupt miteinander gemein? Beide Nachgeborenen, der eine ist Jahrgang 1941, der andere 1936[richtig: 1938], haben nach einem längeren Anlauf im mittleren Lebensalter den Holocaust zum alles beherrschenden Thema ihres Lebens gewählt. Ihre Ausdrucksformen, wenn man nicht schon von Ergebnissen sprechen will, könnten nicht unterschiedlicher sein.

Mit Mitleid rechnen kann wohl immer noch Bruno Doessekker, der sich in einem jahrelangen Prozess aus einem umhergestoßenen unehelichen Kind, schließlich Adoptivsohn eines wohlhabenden Arztehepaars in den Juden Binjamin Wilkomirski verwandelt hat. Diese seine Identität als jüdisches Kind, das den Holocaust er- und überlebt hat, wurde ihm angeblich in der Schweiz vorenthalten. Aus Lektüren, Gesprächen und auf Reisen nach Polen und Israel, unterstützt von einer Psychotherapie, gewann er mühseligst Gewissheit über sich selbst. Seine Kindheitserinnerungen wurden unter dem Titel Bruchstücke in einem angesehenen Verlag 1995 veröffentlicht.

Das Buch erregte beträchtliches Aufsehen, wurde in andere Sprachen übersetzt und trug Wilkomirski einen Preis, viele mitfühlende Leserbriefe und alle möglichen Einladungen zu einschlägigen Konferenzen über den Holocaust ein -- ein wirklicher Bestseller wurde es nicht (Stefan Mächler, Der Fall Wilkomirski, Pendo Verlag, München und Zürich 2000). Von Anfang an waren Zweifel an der Authentizität der Erinnerungen und der Person Wilkomirskis aufgetaucht, aber beiseite geschoben worden. Niemand konnte sich wohl vorstellen, warum ein Mensch sich eine solche Biografie ausdenken sollte.

Hochstapeln mit dem Holocaust? Weder die Leichtgläubigkeit noch die Ergriffenheit sprechen gegen die Agenten, Verleger, Lektoren, Rezensenten und Leser. Keiner, der von Auschwitz weiß, ist imstande, einem Überlebenden kritische Fragen zu stellen.

Doessekker/Wilkomirski war immer wieder der Auslöser, aber auch der Nutznießer ungeheurer emotionaler Exzesse, zu der der Holocaust, hier noch in der Engführung auf ein kleines Kind, gute Menschen leicht verführen kann. Auch als der Schwindel aufgeflogen war, hielten viele weiter zu ihm, sicher nicht bloß, um ihre Blamage zu kaschieren. Ist es denn falsch, die Kunst der auch einmal dafür einzusetzen, uns die Erfahrung eines Kindes in Auschwitz nahe zu bringen? Wilkomirski gewann aus dem Echo seiner bodenlosen Trauer bei seinem Publikum die Gewissheit, ein Überlebender zu sein und nicht bloß ein von Mutter und vom Vater verschmähtes, ausgesetztes Kind, ein Sozialfall, ein Fall für die Heilkunst. Seine Leser und Leserinnen nahmen ein tiefes Gefühlsbad und tauchten erfrischt daraus auf, um den Kampf für die Schwachen fortzusetzen.

Was ist also schlimm an einem Hochstapler in Sachen Holocaust? Seine Zeugen, die Täter, aber natürlich auch seine echten Überlebenden sterben allmählich aus. Vielleicht sollten wir Doessekker/Wilkomirski wie eine Fingerübung betrachten. Womit kann der Fantasieraum des Holocaust gefüllt werden? Mit Fakten, Zahlen, Schriftstücken und Unterschriften, würde David Irving sagen. Ganz genauso wie sich Doessekker/Wilkomirski im Lauf langer Jahre verwandelt hat, wurde aus einem sensationsfixierten Journalisten mit dem Schwerpunkt auf der Nazizeit der weltberüchtigte Revisionist David Irving. Am Anfang seiner Karriere standen Reportagen über Nazigrößen und ein Buch über die Zerstörung Dresdens durch britische Bomber.

Thyssen AusweisWährend Wilkomirski ein paar Studiengänge schmiss, aber dank des Vermögens seiner Adoptiveltern als Musiker und Privatier ausdauern konnte, tat Irving dasselbe, ging dann aber als Arbeiter zu Krupp [richtig: Thyssen]. Als Historiker ist er Dilettant -- aber das ist nur deshalb hervorzuheben, weil er die Methoden der Zeitgeschichte hervorragend kritisiert und persifliert.

Er glaubt überhaupt nichts, und von Gefühlen lässt er sich als Wissenschaftsgläubiger schon gar nicht beeinflussen, gerade dann nicht, wenn es um den Holocaust geht. Er zweifelt sozusagen von morgens bis abends -- während die Leser von Wilkomirski, pars pro toto, glauben und Forschungslücken mit Gefühlen füllen.

Irving richtet sich im diabolischen Zweifel so ein wie Wilkomirksi im Glauben.

Ihr Publikum ist nicht dasselbe, wie man sich denken kann. Natürlich wird Irving auch von Ewiggestrigen hofiert, Leuten, die sich den Schwarzen Peter der neueren Weltgeschichte nicht zuteilen lassen wollen. Sie haben ihre vaterländische Pflicht erfüllt und ansonsten nichts getan, was man nicht erklären könnte ... Der Krieg ist eben eine schlimme Sache. Usw. usf.

Interessanter ist Irving in der Rolle als Mephisto, als Zweifler und Zyniker.

Sie glauben als gutwilliger Mensch an den Holocaust, aber Sie wissen nicht wirklich, ob und wie in Auschwitz Tausende von Menschen vergast und verbrannt worden sind. Was leistet denn so ein Lastenaufzug zwischen Gaskeller und Krematorium täglich? Dreisatzaufgaben der wahnsinnigsten Art mussten vor dem Londoner Gericht gelöst werden, ehe Irvings Klage gegen Deborah Lipstadt abgewiesen wurde. Auf ihrer Seite hatte die Verteidigung bekannte Experten aufgeboten, während Irving ganz allein [unrichtig] auftrat und sogar auf einen Anwalt verzichtet hatte.

Ob er je geglaubt hat, sich unter diesen Umständen vom Vorwurf systematischer Geschichtsfälschung befreien zu können, steht dahin. Jedenfalls hatte er 32 Tage lang Gelegenheit, sich vor einem Publikum und Experten zu produzieren, die ihn sonst meiden wie die Pest. Seine Niederlage bestätigt außerdem nur die Rolle, die er mit Gusto seit langem spielt, die des unerschrockenen Forschers, den man mit allen Mitteln mundtot machen will. Genau in dieser Rolle trat er wenige Tage nach Prozessende auf einer Veranstaltung in Cincinnati wieder auf.

Dass Forschung keine Fragen beantwortet, sondern neue stellt, diese Ironie des Wissenschaftsalltags hat Irving als Abwehrstrategie eingesetzt. Wenn der Teufel im Detail steckt, müssen wir wohl wirklich über den Typhus in Bergen-Belsen oder den Lastenaufzug in Auschwitz-Birkenau forschen und nachdenken, ehe wir vom Holocaust reden dürfen ...

Warum wird einer zum Leugner des Holocaust, während ein anderer sich freiwillig als Opfer meldet? Grob gesagt, hat Wilkomirski ein Mutter-, Irving ein Vater-Problem. Nur das Phantasma des Holocaust kann der Verzweiflung gerecht werden, die aus der Erfahrung folgt, von der Mutter verworfen und verlassen worden zu sein.

Umgekehrt kann man aber auch schließen, dass die Suspendierung der selbstverständlichen Zivilität, die einen trägt und sichert, im Holocaust so etwas wie den Zweifel am Mütterlich-Göttlichen überhaupt in Gang gesetzt hat.

Warum hat Wilkomirski, statt als Hochstapler des Holocaust peinlich aufzufallen und einen Haufen gutwilliger Menschen zu blamieren, nicht einen Orden gegründet? Vor wenigen Jahrzehnten noch wäre es möglich gewesen, dass Wilkomirski mit Stigmata in Erscheinung getreten oder mit Visionen sich bemerkbar gemacht hätte. Man kann daraus den Schluss ziehen, dass die uns bekannten und vertrauten Denominationen, von Schuldbekenntnissen wegen Antisemitismus oder Trägheit abgesehen, den Holocaust genauso wenig bearbeiten können wie areligiöse Menschen auch.

Man kann aber auch daraus folgern, dass der Holocaust eine Quelle religiöser Erneuerung zu werden droht. Das Bild eines Klarinette blasenden Wilkomirski, der neben Überlebenden des Holocaust aufgeregte Nachgeborene um sich schart und dann über Identität und Therapie als Ziel der Erlösung schwafelt, mutet bedrohlich zeitgerecht an.

Ganz anders sieht die Welt für jemanden aus, der keinen Vater hat. An Selbstvertrauen fehlt es Irving nicht -- wohl aber an Vorstellungen zu Gesetz und Ordnung. Wenn alle an den Holocaust glauben, dann wird er das Konzept in Frage stellen. Weder lässt er sich von Gefühlen düpieren, noch kennt er Angst und Schrecken. Ununterbrochen fordert er den Vater heraus, der ihn verlassen und enttäuscht hat -- wenn es sein muss mit absurden Provokationen.

Irving ist ein Nachgeborener: Die Vorstellung, dass einmal alles erlaubt war, das sonst streng verboten ist, hat ihn so illuminiert und mit Triumphgefühlen erfüllt, dass er darüber zum Holocaust-Leugner geworden ist.

Der Schweizer und der Brite führen vor, dass der Holocaust noch lange nicht bewältigt werden kann. Wir agieren bis auf weiteres in seinem Schatten.

Wilkomirski ist peinlich, Irving ein Feind der Gerechten. Hier ein Fall für den Psychiater, dort einer für das Gericht. Mit dieser sauberen Zweiteilung in naive und sentimentalische Dichtung zum Holocaust müssen wir vorläufig auskommen.


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