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Deborah Lipstadt, ihre Anwälte und die als Gutachter bestellten Historiker waren sich einig, daß es moralisch unvertretbar gewesen wäre, Überlebende nicht nur der Pein des Verfahrens generell auszusetzen, sondern dem Kreuzverhör durch Irving, der mehrfach deutlich gemacht hatte, daß der Erinnerung nach über fünfzig Jahren nicht zu trauen sei.

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Frankfurt, 2. Februar 2001, Nr. 28 / Seite 45

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Die historische Wahrheit vor Gericht

Der Irving-Prozeß und die Historie: Eine Tagung in Toronto

TORONTO, Anfang Februar

RamptonEINER gefährlichen Schlange habe der Kopf abgeschlagen werden müssen. Darum sei es im Londoner Irving-Prozeß gegangen, nicht um geschichtstheoretische Denkübungen. Richard Rampton, (rechts), der brillante Verteidiger des Penguin-Verlags vor dem Royal High Court in London, will in dem Gerichtsverfahren keine Fortsetzung geschichtswissenschaftlicher Debatten mit anderen Mitteln sehen. Dazu seien Gerichte nicht da, und außerdem sei David Irving kein Historiker, sondern ein Rassist, ein Antisemit, ein aktiver Holocaust-Leugner und absichtlicher Fälscher historischer Fakten -- so wie es auch das Urteil des Richters festgestellt habe. Daß es aber um Geschichte ging in jenem Saal 73, wo letztes Jahr über David Irvings Verleumdungsklage gegen die amerikanische Historikerin Deborah Lipstadt und ihren Verlag verhandelt wurde, daran besteht kein Zweifel.

Geschichte in der Arena des Rechts: Der Irving-Prozeß steht in diesem Kontext nicht allein. Die Entschädigungsklagen der letzten Jahre und die aus biologischen Gründen freilich immer weniger werdenden Kriegsverbrecherprozesse markieren, wenn auch in anderer Weise, Variationen des gleichen Themas. Doch was passiert eigentlich, wenn historischer und juristischer Diskurs aufeinandertreffen? Können Gerichte historische Wahrheit etablieren? Sind Historiker Richter?

Pyrrhus-Sieg der Wissenschaft?

Eine Konferenz an der Universität Toronto, anläßlich der Übernahme eines neu eingerichteten Lehrstuhls für Holocaust-Studien durch den renommierten Historiker Michael Marrus, nahm den Irving-Prozeß zum Anlaß, nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Rechts- und Geschichtsdiskurs zu fragen und nach den Möglichkeiten und Grenzen rechtlicher Urteilsbildung in historischen Fragen. Doch darüber hinaus ging es darum, die Bedeutung des Irving-Prozesses für die kollektive Erinnerung an den Holocaust zu ermessen. Neben Deborah Lipstadt und Barrister Rampton war mit Christopher Browning, Richard Evans, Peter Longerich und Robert Jan van Pelt auch die "Viererbande" jener Historiker nach Toronto gekommen, die als Experten im Zeugenstand entscheidend dazu beigetragen hatten, den Kläger und Angreifer Irving im Laufe der Verhandlungen immer stärker in die Defensive zu zwingen und damit die formalen Fronten des Verfahrens umzudrehen.

Das Symposion war indes keine akademisch verbrämte Siegesfeier. Im Gegenteil: In die spürbare und auch nicht zurückgehaltene Freude über den Erfolg mischte sich Skepsis. Irving sei geschlagen, vor der Weltöffentlichkeit als Holocaust-Leugner entlarvt. RatfaceAber wie solle man es bewerten, fragte der englische Holocaust-Forscher David Cesarani, (links), daß nur wenige Tage nach dem Prozeß ein seriöser Historiker namens D. C. Watt öffentlich betont habe, die historische Wahrheit brauche von Zeit zu Zeit die Herausforderung eines Irving. Ein -- vielleicht der übelste -- Holocaust-Leugner sei besiegt, aber drohe nun nicht neue Gefahr, beispielsweise in Gestalt des wirkungsmächtigen verschwörungstheoretischen Topos der "Holocaust-Industrie"?

Zu selbstgefälligem Zurücklehnen jedenfalls sahen die im Munk Centre for International Studies versammelten Konferenzteilnehmer keinen Anlaß. Von einem Pyrrhus-Sieg sprach gar der amerikanische Historiker Peter Hayes, und er lenkte die Diskussion zu der Frage, ob es denn richtig sei, Gerichten mit ihrer ohnehin stark abnehmenden politischen Zurückhaltung und ihrer Intervention in immer weiteren gesellschaftlichen Bereichen nun auch noch die Geschichte zu überlassen. Die Verrechtlichung des öffentlichen Diskurses ist nicht nur in den Vereinigten Staaten eine mächtige Tendenz -- mit spürbaren Folgen auch für die Welt der Historiker: ängstliche Verlage, die potentiell gerichtsträchtige Bücher und Aufsätze nicht publizieren oder allenfalls entschärfte Manuskripte; Autoren, die auf Kritik reagieren mit rechtlichen Schritten oder Androhung derselben. Hier steht mehr auf dem Spiel als die überkommene Form des Austrags wissenschaftlicher Kontroversen, hier geht es um die Freiheit der Wissenschaft, um ihre Selbstbestimmung, um ihr Recht, gerade auch aus dem Streit der Meinungen, aus dem fachlichen Konflikt zu Erkenntnisfortschritt aus sich selbst heraus zu gelangen.

Darum mußte man in London -- sosehr der Prozeß über weite Strecken die Züge eines großen Rigorosums trug, einem Expertenstreit glich -- Irving den Status des Historikers absprechen. Eine Auseinandersetzung zwischen Historikern hätte vor den Schranken des High Court nichts zu suchen gehabt.

EvansSeine Methode, sein Umgang mit den Quellen, seine einseitige Verbiegung, ja Fälschung des historischen Materials, das machte vor allem Richard Evans (links) deutlich, diskreditierten Irving als Historiker.[*]

Denn dieser hatte den Prozeß angestrengt, weil er seinen angeblichen Ruf als Wissenschaftler beschädigt sah.

Eine Linie war also zu ziehen zwischen historischer Interpretation und Fälschung, und es ist diese Linie, die die Grenze markiert zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft. Sie zu definieren, bedurfte es es der gemeinsamen Anstrengung von Historikern und Juristen. Dies unterscheidet das Irving-Verfahren von anderen Prozessen gegen Holocaust-Leugner wie beispielsweise den Zündel-Prozessen der achtziger Jahre in Kanada, in denen die Freiheit der Rede und der Wissenschaft im Zentrum der Auseinandersetzung stand, in denen die sogenannten "Revisionisten" die Richter zu überzeugen suchten, Geschichte sei stets Kontroverse, alles stehe zu jeder Zeit in Frage und historische Wahrheit existiere nicht.

Kurz, zu kurz flackerte an diesem Punkt der Konferenz die Frage auf, ob und inwiefern postmoderne Geschichtstheorie den Holocaust-Leugnern und Auschwitz-Relativierern Vorschub leiste. Mancher Kritiker des "linguistic turn", nicht zuletzt Richard Evans, hat ja mit dem Hinweis auf "Auschwitz als Text" oder "Auschwitz als Diskurs" nicht nur die wissenschaftliche Untauglichkeit, sondern auch die moralische Abgründigkeit postmoderner Geschichtstheorie zu demonstrieren versucht. Aber ging es im Irving-Fall nicht auch um diejenigen, die klug genug sind, zwar nicht Auschwitz selbst als Diskurs zu verstehen, wohl aber die Geschichtsschreibung darüber?

 

Doch Irving ist ja kein Historiker. Und der Londoner Prozeß hat nicht nur als Aktenschlacht auf der Grundlage bekannten Materials stattgefunden, er hat, der Architekturhistoriker Robert Jan van Pelt wies darauf hin, dazu geführt, daß in die Expertenberichte (die meisten werden über kurz oder lang als Bücher veröffentlicht) auch ganz neue Erkenntnisse einflossen.

Das gilt nicht zuletzt für van Pelts eigene Untersuchungen darüber, wie Auschwitz-Birkenau als Vernichtungslager funktionieren -- im Wortsinne -- konnte, um dem Leugner Irving zu beweisen, daß es funktionieren konnte. Nicht um die dem Historiker geläufige Frage: Ist es geschehen oder nicht, sind in Auschwitz Menschen vergast worden oder nicht? sei es in London gegangen.

In jedem Falle erwies sich das Gerichtsverfahren als Stimulus historischer Forschung. Das mag Fragen hervorrufen über die Eigendynamik der Geschichtswissenschaft, ihre Themen und Prioritäten. Brauchen wir dickleibige Studien über die "Konstruktion von Erinnerung", wenn wir mehr als fünf Jahrzehnte nach Ende des "Dritten Reiches" noch immer nicht genug über Auschwitz und den Holocaust wissen, um einen Irving auch ohne Prozeß der Lüge zu überführen?

Angesichts der Klage Irvings habe der Richter wissen wollen, ob es möglich sei, daß es nicht geschehen sein könnte, ob es möglich sei, daß in Auschwitz keine Menschen vergast worden sein könnten.Diese historisch absurde, aber rechtlich entscheidende Frage war durch einzelne Indizien nicht zu beantworten, sondern nur, wie es sich dann auch der Richter in seinem Urteil zu eigen machte, durch die "Konvergenz der Beweise".

Prozeß und Erkenntnis

Freilich ist insbesondere im Hinblick auf die Geschichte des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust der Zusammenhang zwischen Gerichtsprozessen und historischem Erkenntnisgewinn kein Novum. Das begann im Grunde schon mit dem Nürnberger Prozeß und setzte sich mit den NS-Prozessen in der Bundesrepublik fort. Wichtige Arbeiten zur Geschichte des Nationalsozialismus aus den sechziger Jahren waren zunächst im Institut für Zeitgeschichte als Prozeßgutachten entstanden. Und im letzten Jahr war es der Irving-Prozeß, der zur Freigabe der Eichmann-Tagebücher durch die israelische Regierung und damit zu ihrer Publikation führte. Wäre es nicht viel einfacher und mindestens genauso erfolgreich gewesen, diese Frage tauchte in Toronto ebenfalls auf, statt trockener geschichtswissenschaftlicher Experten eine Anzahl von Auschwitz-Überlebenden in den Zeugenstand des Royal High Court zu rufen?

Deborah Lipstadt, ihre Anwälte und die als Gutachter bestellten Historiker waren sich einig, daß es moralisch unvertretbar gewesen wäre, Überlebende nicht nur der Pein des Verfahrens generell auszusetzen, sondern der Konfrontation mit dem Holocaust-Leugner, dem Kreuzverhör durch Irving, der sich selbst vor Gericht vertrat und der mehrfach deutlich gemacht hatte, daß der Erinnerung nach über fünfzig Jahren nicht zu trauen sei. Darüber hinaus aber war der historische Zeitpunkt des Prozesses ausschlaggebend für diese Entscheidung. In wenigen Jahren werde es keine Überlebenden des Holocaust mehr geben. Daher hätten Historiker nun die Überlebenden als Zeugen ablösen müssen, und sie seien in London erfolgreich dazu in der Lage gewesen.

Vielleicht liegt hierin die langfristige Bedeutung des Prozesses, der uns alle zu Zeugen des allgegenwärtigen, aber selten zu beobachtenden Vorgangs gemacht hat, wie im Wechsel der Generationen und im Voranschreiten der Zeit aus Erinnerung Geschichte wird.

ECKART CONZE

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.02.2001, Nr. 28 / Seite 45

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