[Frankfurter
Allgemeine Zeitung deems Richard "Skunky" Evans's first
volume of Trilogy boring, needlessly elaborate, and
insensitive]
Kein feines Ohr
Richard Evans hebt zu einem dreibändigen Werk
über das "Dritte Reich"
Richard
J. Evans: Das Dritte Reich. Band I: Aufstieg. Aus dem
Englischen von Holger Fliessbach und Udo Rennert.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2004. 752
Seiten, 39,90 ¤.
AN Darstellungen der Geschichte des
"Dritten Reiches" herrscht kein Mangel. Wird also ein
weiteres Buch zu dem sperrigen Gegenstand vorgelegt,
fragt man nach dem Motiv für seine
Publikation.
Ein einleuchtender Grund liegt mit Sicherheit dann
vor, wenn sich ein Autor mit neuen Ideen oder anhand
neuer Quellen der bereits so eingehend bearbeiteten Sache
noch einmal nähert.
Richard
J. Evans, [rechts] der jetzt den
ersten Band einer dreiteiligen Geschichte der
nationalsozialistischen Diktatur unterbreitet hat,
erläutert sein aufwendiges Unternehmen dagegen auf
andere Art und Weise:
"Die drei Bände wenden sich in erster
Linie an Leserinnen und Leser, die nichts oder nur
wenig über das Thema wissen und gerne mehr
erfahren möchten."
Angesichts dieser Absicht fragt man sich, ob einem
solchen Zweck nicht eine in einem Band verfaßte
Darstellung besser gedient hätte.
Wie paßt, rätselt man weiter, zu einem
für ein allgemeines Leserpublikum geschriebenen Buch
der außerordentlich umfangreiche Anmerkungsapparat,
in dem der Leser beispielsweise über den einen oder
anderen "bahnbrechenden"
Artikel informiert [wird], in dem ein Verweis
auf wissenschaftliche Literatur mit dem Zusatz "vgl. aber
meine Besprechung dieser in vieler Hinsicht nicht
überzeugenden Arbeit" versehen und in dem etwa eine
angeführte Veröffentlichung als "eher
konventionell" abqualifiziert wird? Nun, in dieser
Hinsicht hat der Autor, der in seinen Fußnoten
nicht selten mit einer ans Bestreitbare grenzenden
Entschiedenheit urteilt, wohl den anderen Teil seiner
Leserschaft im Auge, über die es im "Vorwort"
heißt: "Ich hoffe, daß auch Fachleute etwas
für sie Interessantes darin entdecken werden, aber
sie sind nicht die vorrangige Zielgruppe der
Bücher."
In dieser zweigeteilten Perspektive also führt
der Autor den Leser in sechs Kapiteln auf 591 Seiten und
78 Seiten Fußnoten bis in den Sommer des annus
terribilis 1933, als der Boden bereit war "für die
Errichtung einer Diktatur, wie die Welt sie noch nicht
erlebt hatte".
Den Weg dorthin, bis zur Geburt der
nationalsozialistischen Tyrannis, möchte Richard J.
Evans nicht als einen "Sonderweg" der deutschen
Geschichte, also als eine in grundlegender Differenz zur
allgemeinen Geschichte Europas sich vollziehende
Entwicklung begreifen - und erliegt doch über
große Strecken seiner Darstellung einer gar nicht
zu übersehenden Akzentuierung jener "deutschen
Besonderheiten", die er vor allem seit den Tagen des
Bismarck-Reichs auf breiter Spur verfolgt.
Daß die "Last der deutschen Geschichte ...
zweifellos eine Rolle" gespielt hat, ja daß sie
für das in Rede stehende Thema zentrale Bedeutung
besitzt, ist unbestreitbar.
Ob es allerdings sinnvoll ist, Geschichte und
Geschichten des Kaiserreichs so ausgedehnt zu
erzählen, wie dies geschieht, geht dem
buchstäblich erschöpfend unterrichteten Leser
immer wieder durch den Sinn.
Dasselbe gilt für die nicht selten zu einer
Geschichte der Weimarer Republik ausufernden Kapitel
über die "Gescheiterte Demokratie", über den
"Aufstieg des Nationalsozialismus" und über den "Weg
zur Machtergreifung".
Die sorgfältige Schilderung persönlicher
Schicksale, wie die des Sattlers und Polsterers Adolf G.
beispielsweise, können zwar dazu dienen, im
einzelnen das Allgemeine - hier die Problematik der
"Weimarer Wohlfahrtsverwaltung" als einem vom Verfasser
so genannten "Instrument staatlicher Diskriminierung und
Überwachung" - anschaulich zu illustrieren.
Allein, nicht selten sucht der Leser im Dickicht
vielfältiger Einzelheiten nach jenem roten Faden,
der ihn etwas umwegloser zum eigentlichen Objekt der
Untersuchung finden ließe.
Um die Entstehung der nationalsozialistischen Diktatur
geht es schließlich in den Kapiteln über "Die
Schaffung des Dritten Reiches" und über "Hitlers
Kulturrevolution", welche die Tatsachen der
Machtübernahme und der "Gleichschaltung" im
bekannten Rahmen rekonstruieren.
Mit Recht betont Evans immer wieder die
antiparlamentarischen Aktivitäten, mit denen die
politische Rechte die Weimarer Republik ruinös
attackiert hat.
Dementsprechend würde man aber auch gerne
Näheres über jenen linken Antiparlamentarismus
erfahren, der im einschlägigen Vergleich gewiß
weniger Wirkmacht entfaltet hat, im spezifischen
Zusammenspiel der Extreme aber nicht zu
unterschätzen ist.
Ob dieses Manko wohl damit zu tun hat, daß der
Autor vom Faschismusbegriff als heuristischem
Interpretament mehr hält als vom
Totalitarismusbegriff, stellt sich hier und da als Frage
ein.
In vergleichsweise konturenklarer Frontstellung wird
die Überwindung der Weimarer Moderne durch die neuen
Barbaren des Nationalsozialismus abgehandelt:
Aufschlußreich wäre in dieser Hinsicht
gleichwohl gewesen, eingehender danach zu fragen, welche
politischen Folgen es hatte, daß die von Evans mit
viel Einfühlungsvermögen dargestellte
Avantgarde der Weimarer Kunst und Kultur auf der einen
Seite und der traditionelle Geschmack des gebildeten
Bürgertums sowie die populären Vorlieben der
breiten Volksmassen auf der anderen Seite in
gegenseitiger Distanz zueinander verharrten, ja sich
zunehmend mehr in wechselseitiger Feindseligkeit
begegneten.
Was schließlich das Ende der unglücklichen
Republik von Weimar angeht, so sieht der Autor kaum mehr
eine systemkonforme, parlamentarische und republikanische
Alternative zum heraufziehenden Unheil.
Den einzig verbliebenen Ausweg, der das zutiefst
Verwerfliche vielleicht zugunsten des höchst
Problematischen vermieden hätte, umschreibt er
vielmehr so: "In der zweiten Jahreshälfte 1932 war
ein Militärregime gleich welcher Form die einzig
praktikable Alternative zu einer NS-Diktatur ...
Eine Militärdiktatur hätte aller
Wahrscheinlichkeit nach in den Jahren nach 1933 etliche
Freiheitsrechte aufgehoben, eine Aufrüstung in
Angriff genommen, den Vertrag von Versailles für
nicht mehr bindend erklärt, Österreich
annektiert und wäre in Polen einmarschiert, um
Danzig und den polnischen Korridor zurückzuerobern,
der Ostpreußen vom übrigen Deutschen Reich
trennte.
Sie hätte möglicherweise die Wiedergewinnung
deutscher Macht dazu benutzt, weiterhin eine aggressive
Außenpolitik zu verfolgen, was zu einem Krieg mit
England und Frankreich oder der Sowjetunion oder mit
allen drei Staaten geführt hätte.
Sie hätte mit Sicherheit Juden in Deutschland
Rechte genommen.
Aber es ist alles in allem unwahrscheinlich, daß
eine Militärdiktatur in Deutschland ein
Völkermordprogramm begonnen hätte, das seinen
Höhepunkt in den Gaskammern von Auschwitz und
Treblinka fand."
Mehr noch: Ohne den Begriff zu benutzen, sieht Evans
die untergehende Demokratie von Weimar in einem beinahe
tragischen Licht: "Demokratien, die von ihrer Vernichtung
bedroht sind, stehen vor dem unlösbaren Dilemma, im
Angesicht der Vernichtung auf die Einhaltung
demokratischer Feinheiten zu bestehen oder ihre eigenen
Grundsätze zu verletzen und demokratische Rechte zu
beschneiden."
Gemeint ist hier gewiß "Freiheiten" statt
"Feinheiten".
Kommt hinzu, was über die scharf gezogenen
Grenzen zwischen den mächtigen Feinden und den
ohnmächtigen Verteidigern der Republik hinaus der
Publizist Sebastian Haffner in seinem "Rückblick"
auf die deutsche Entwicklung "Von Bismarck zu Hitler"
über den "Stimmungswechsel" in den Anfangsmonaten
des sich etablierenden "Dritten Reiches"
aufschlußreich berichtet hat:
"Es war - man kann es nicht anders nennen -
ein sehr weit verbreitetes Gefühl der
Erlösung und Befreiung von der Demokratie.Was macht eine Demokratie, wenn eine Mehrheit des
Volkes sie nicht mehr will? Damals zogen die meisten
demokratischen Politiker den Schluß: Wie danken
ab, wir ziehen uns aus dem politischen Leben
zurück.
Es soll uns nicht mehr geben."
Es
sind nicht zuletzt solche Zwischentöne des
Atmosphärischen, die man, weil das Wesen der
Geschichte nun einmal die Nuance ist, in Evans'
voluminöser, von viel
überflüssiger Ausführlichkeit
begleiteter Darstellung zuweilen einfach vermißt.
-- KLAUS HILDEBRAND
Erscheinungsdatum 20.07.2004