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Saturday, December 15, 2001
Ein Führerbefehl war nicht nötig Peter Longerich widerlegt die Legende, der Mord an den Juden sei wie von selbst an Adolf Hitler vorbei passiert Von Julius H. Schoeps HAT Adolf Hitler den Befehl zum millionenfachen Judenmord gegeben? Die Frage beschäftigt seit Jahren intensiv die Historikerzunft. Zwei Denkschulen haben sich in dieser Frage herausgebildet. Zum einen die so genannten Intentionalisten, die argumentieren, es habe eine direkte Beziehung zwischen Ideologie, Planung und politischer Entscheidung gegeben und Hitler sei die ausschlaggebende Rolle bei der Vernichtung der europäischen Juden zuzuschreiben. Dagegen halten die "Funktionalisten" um Hans Mommsen und den verstorbenen Martin Broszat, die bei den Handlangern der NS-Mordmaschinerie technokratischen Durchführungseifer strikt von ideologischer Motivation getrennt wissen wollen. Sie sind fest davon überzeugt, es habe einen Prozeß der "kumulativen Radikalisierung" gegeben, an dessen Ende, fast wie von selbst, die Vernichtungslager gestanden hätten. Eine spezielle Variante in dieser Debatte ist der Versuch rechtsradikaler Kreise, Kapital aus der Tatsache zu schlagen, dass - im Gegensatz zur Euthanasie - kein schriftlicher Befehl Hitlers zur Ermordung der Juden nachweisbar ist. Auf diesen Sachverhalt pochen Pseudohistoriker wie David Irving seit Jahrzehnten, um die NS-Gewaltverbrechen zu verharmlosen und Adolf Hitler zu entlasten. Wie weit diese Kreise, die sich als "revisionistisch" begreifen, tatsächlich das glauben, was sie behaupten, ist einigermaßen unklar. David Irving ging jedenfalls so weit, die amerikanische Professorin Deborah Lipstadt zu verklagen, weil diese in ihrem Buch "Denying the Holocaust" ihn als einen der Leugner des Mordes an den Juden dargestellt hatte. Der Prozess vor einem englischen Gericht, in dem Irving bescheinigt wurde, ein "extrem rechter Pro-Nazi-Polemiker" zu sein, schlug international Wellen. Es war das erste Mal, dass von einem ordentlichen Gericht rechtsradikale Propaganda als solche gebrandmarkt wurde. Dass Irving vor Gericht den von ihm angestrengten Prozess verlor - damit hatte er wohl selbst nicht gerechnet. Zu verdanken hatte er das unter anderem den zwei Gutachten des am Royal Halloway College lehrenden eutschen Historikers Peter Longerich, der Irvings-Propagandathesen als das entlarvte, was sie sind: Simple Taschenspielertricks, die dazu dienen, ernsthafte Forschungsergebnisse zu denunzieren und die historische Wahrheit zu verfälschen. Longerichs Gutachten, für eine Publikation umgearbeitet, liegen jetzt in einem lesenswerten Büchlein vor. Gestützt auf zwischenzeitlich veröffentlichte Dokumente, wobei auch Aktenfunde in Osteuropa berücksichtigt werden, führt Longerich den Nachweis, dass Hitler eine zentrale Rolle im Prozess des organisierten Judenmordes gespielt hat, der bekanntlich euphemistisch "Endlösung der Judenfrage" genannt wurde. Was Longerich durchaus überzeugend belegt, ist der Sachverhalt, dass Adolf Hitler sehr genau über den millionenfachen Massenmord und seine Abläufe informiert war. Es ist eine Mär, Hitler habe nichts gewusst und alles sei hinter seinem Rücken geschehen. Diese Behauptung, immer wieder zu hören, ist unzutreffend. Ein ausdrücklicher Befehl lag zwar nicht vor, aber es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Hitler den Mord gewollt, autorisiert und mittels mündlicher Anweisungen vorangetrieben hat. Die vorliegenden Dokumente, so Longerich, sprechen eine eindeutige Sprache. Liest man sie richtig, dann verdichten sie sich insgesamt zum Bild einer konsequent verfolgten Politik. Adolf Hitler vermied es, schriftliche Anweisungen zu geben, doch trieb er den Prozess des Massenmordes mit Reden und Äußerungen voran. Seine Entourage wusste ganz genau, was mit einer Anspielung, einer Andeutung oder Umschreibung gemeint war. Wenn Hitler vor Tischgästen oder in einer seiner zahlreichen öffentlichen Reden immer wieder auf seine "Prophezeiung" zurückkam, im Falle eines "Weltkrieges" die Juden Europas zu "vernichten", dann begriffen seine Zuhörer sehr wohl, was den "Führer" bewegte und was on ihnen erwartet wurde. Erschwert wird die Darstellung der Rolle Hitlers bei der Genesis der "Endlösung" dadurch, dass die Formulierungen des "Führers" meist so gehalten waren, dass sie einen gewissen Interpretationsspielraum ließen. Der Judenmord war jeder öffentlichen Erörterung entzogen und wurde als eine Geheimsache behandelt. Hitler und seine Gehilfen waren sich durchaus bewusst, dass sie außerhalb bestehender Gesetze und bestehender Normen operierten. Das war wohl auch er Grund, weshalb sie für den Vorgang des organisierten Massenmordes eine Tarnsprache mit Begriffen wie "Endlösung", "Umsiedlung" oder "Evakuierung" wählten. Aus Äußerungen von Hitlers Untergebenen geht eindeutig hervor, dass sie sich als Teil einer Befehlskette verstanden. Heinrich Himmler zum Beispiel tat das, was er meinte, dass Hitler von ihm erwartete. In verschiedenen Ansprachen hat er deutlich erklärt, dass er für die Durchführung des Massenmordes einen Auftrag erhalten hätte. Ohne dass er einen Namen nannte, wusste jeder seiner Zuhörer, von wem der Befehl kam, denn als Reichsführer SS unterstand Himmler Adolf Hitler. Am 6. Oktober 1943 äußerte Himmler in Posen vor Gau- und Reichsleitern: "Ich bitte Sie das, was ich Ihnen in diesem Kreise sage, wirklich nur zu hören und nie darüber zu sprechen." Deutlicher wurde er in einer Ansprache vor Generälen der Wehrmacht in Sonthofen am 5. Mai 1944, wo er deutlich zu erkennen gab, dass er aus eigenem Antrieb, aber auch im Auftrag Adolf Hitlers gehandelt habe: "Die Judenfrage ist in Deutschland und im Allgemeinen in den von Deutschland besetzten Ländern gelöst . . ." Wenig später folgt die verräterische Formulierung: "Sie mögen mir nachfühlen, wie schwer die Erfüllung dieses mir gegebenen soldatischen Befehls war, den ich befolgt und durchgeführt habe aus Gehorsam und vollster Überzeugung." Warum aber kam es in den letzten Jahrzehnten zu Verwirrung stiftenden Interpretationen und Missverständnissen? Das hängt wohl damit zusammen, dass die Historiker häufig nur das akzeptieren, was schwarz auf weiß geschrieben und gedruckt vorliegt. Zwischen den Zeilen zu lesen, sind viele von ihnen nicht gewohnt. Im Falle des nicht vorhandenen Befehls zum organisierten Judenmord, haben sie Schwierigkeiten mit dem Sachverhalt, dass es offensichtlich ausreicht, Untergebene spüren zu lassen, was gewollt ist. Dass diese dann, ohne dass es dazu eines geschriebenen Befehls bedarf, zu "willigen Vollstreckern" mutieren, ist in der Tat beängstigend. Peter Longerich: Hitler und der Weg zur "Endlösung". Piper, München 2001. 240 S., 29,80 Mark.
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